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Wird China sein Wachstumsziel erreichen?

NEW YORK – Anfang März gab Chinas Premier Li Keqiang bekannt, dass sein Land heuer ein BIP-Wachstum von „rund 5,5 Prozent” anstrebe. Das wäre schon ohne den Krieg Russlands gegen die Ukraine und den damit einhergehenden Anstieg der weltweiten Energie- und Lebensmittelpreise ehrgeizig. So prognostizierte der Internationale Währungsfonds bereits im Januar, dass die chinesische Wirtschaft im Jahr 2022 nur um 4,8 Prozent wachsen werde. Schon im Jahr 2019, dem letzten vollen Wirtschaftsjahr vor der Covid-19-Pandemie, stieg das BIP nur um knapp 6 Prozent.

Nach meinen Berechnungen verringert der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in China die potenzielle Wachstumsrate um etwa 0,2 Prozentpunkte pro Jahr. Blieben also alle anderen Faktoren gleich wie im Jahr 2019, könnte das chinesische BIP im Jahr 2022 um etwa 5,4 % wachsen.

Doch aufgrund des Ukraine-Krieges und der für heuer erwarteten Zinsanhebungen durch die US-Notenbank Federal Reserve gestaltet sich das außenwirtschaftliche Umfeld deutlich ungünstiger. Die OECD schätzt, dass der durch den Krieg ausgelöste jüngste Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise das weltweite BIP-Wachstum um mehr als einen Prozentpunkt verringern wird. Da China Großimporteur von Öl, Gas, Weizen und anderen Rohstoffen ist, könnte sich sein Wachstum in ähnlichem Umfang verlangsamen.

Die Zinserhöhungen der Fed – die erste erfolgte bereits am 16. März – werden das Wachstum in den Schwellenländern wohl weiter belasten. Eintreten wird das in Form einer Kombination aus verringerter Exportnachfrage in Ländern hohen Einkommens, einer Umkehrung der Kapitalströme aus den Entwicklungsländern und möglicher Fremdwährungs-Schuldenkrisen.

China kann diese Risiken bis zu einem gewissen Grad abmildern. Beispielsweise indem man sich an den vom Westen angeführten Sanktionen gegen Russland nicht beteiligt, wäre es möglich, Gas, Erdöl und andere Produkte aus Russland zu Vorkriegspreisen zu beziehen.  

China ist möglicherweise auch in der Lage, höhere US-Zinsen besser zu verkraften als viele andere Entwicklungsländer, und zwar aus drei Gründen. Da Chinas Geldpolitik teilweise durch Kapitalverkehrskontrollen abgeschirmt ist, muss der Zinssatz in China nicht automatisch dem der Vereinigten Staaten folgen. Im Verhältnis zu BIP und Devisenreserven präsentieren sich auch Chinas Fremdwährungsschulden niedrig, weswegen die Wahrscheinlichkeit einer Fremdwährungs-Schuldenkrise gering ist. Und da ein Großteil des ausländischen Kapitals in China in Form ausländischer Direktinvestitionen vorliegt (man denke nur an General Motors oder DuPont), ist eine Umkehrung der Kapitalströme für China weniger besorgniserregend als für Länder, die mehr auf internationale Bankkredite oder Anleihefinanzierung angewiesen sind.

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Dennoch wird es für China schwierig, diese beiden negativen externen Faktoren vollständig auszugleichen. Schließlich werden geringeres Wachstum und größere Unsicherheit in anderen Teilen der Welt zu einer geringeren Nachfrage nach chinesischen Exporten führen, woraus sich ein negativer Nettoeffekt auf das Wachstum ergibt.

Mehrere innerstaatliche Faktoren tragen ebenfalls zum Abwärtsdruck auf das chinesische Wachstum im Jahr 2022 bei. Eine in den letzten anderthalb Jahren erlassene Flut an Vorschriften in den Bereichen Kartellrecht, Datenschutz, Online-Bildung und Treibhausgasemissionen hat die Produktion in einigen Sektoren gedrosselt und die allgemeine Anlegerstimmung getrübt. Beschränkungen im Bereich der Fremdkapitalaufnahme haben eine kleine Rezession auf dem Immobiliensektor entstehen lassen, die auch auf verwandte Branchen wie Stahl, Zement, Haushaltselektronik und Möbel übergegriffen hat.

Viele der neuen Vorschriften lassen sich aus wirtschaftlichen Gründen rechtfertigen und haben auch Entsprechungen in fortgeschrittenen Volkswirtschaften. Aber die Art und Weise, wie sie konzipiert und umgesetzt wurden, hat nicht nur in den direkt betroffenen Sektoren, sondern auch in der Wirtschaft insgesamt zu einem Gefühl der Unberechenbarkeit beigetragen. Diese erhöhte Unsicherheit hat sowohl Innovationen und Unternehmensinvestitionen als auch den Konsum der privaten Haushalte gebremst sowie das Wachstum im letzten Quartal 2021 und in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 beeinträchtigt.

Chinas „Null-Covid-Strategie” im Bereich öffentliche Gesundheit leistet ebenfalls einen Beitrag zur Unsicherheit, weil dadurch wiederkehrende und oftmals unvorhersehbare Teil-Lockdowns erforderlich sind, die die Produktion unterbrechen und Existenzgrundlagen gefährden. Diese Strategie war vielleicht in den Jahren 2020 und 2021 zur Rettung von Leben gerechtfertigt. Doch im Jahr 2022 fällt die soziale Kosten-Nutzen-Rechnung dieses Ansatzes wesentlich ungünstiger aus, wenn man bedenkt, dass die Zahl schwerer Covid-19-Infektionen und die Sterblichkeitsrate bei vollständig geimpften Personen stark zurückgegangen sind und die Wirksamkeit und Verfügbarkeit von oralen Medikamenten und anderen Behandlungen zunimmt.

Hinzu kommt, dass chinesische Unternehmen zur Überbrückung von Lieferengpässen ihre Produktion hochgefahren haben, als die Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 in anderen Ländern zu Produktionsausfällen führte. Doch angesichts neuer, weniger tödlich und leichter übertragbarer Coronavirus-Varianten sind die meisten anderen Länder in diesem Jahr dazu übergegangen, „mit dem Virus zu leben“, weswegen Chinas Null-Covid-Strategie zu einem weitaus größeren Verlust an inländischer Produktion und Einkommen führen könnte.

Die chinesischen Behörden scheinen nun ihren Regulierungsansatz zu ändern und ihre Unterstützung für Privatunternehmen zu verstärken. Zwar haben die jüngsten diesbezüglichen Erklärungen von Vizepremier Premier Liu He zu einem ersten Anstieg der chinesischen Aktienkurse geführt, aber nur konkrete Maßnahmen können das Vertrauen der Unternehmer wiederherstellen und den privaten Sektor zu mehr Investitionen und Innovationen anregen.

Um diese Covid-Strategie anzupassen, gilt es für die Politik, das Problem der „letzten Meile” zu lösen, also der verbleibenden, nicht vollständig geimpften Bevölkerung die Impfung zu verabreichen und die Produktion der antiviralen Covid-19-Medikamente hochzufahren.

Wenn alles gut geht, wird China in diesem Jahr ein Wachstum von annähernd 5,5 Prozent aufweisen, aber womöglich etwas darunter bleiben. Um das Ziel wirklich zu erreichen und in den kommenden Jahren ein moderat hohes Wachstum aufrechtzuerhalten, braucht das Land eine Produktivitätsrevolution, die dazu beiträgt, das Wachstumspotenzial zu heben.  

Gelingen wird dies nicht durch geldpolitische oder fiskalische Anreize und auch nicht durch eine Industriepolitik, die Investitionen in Forschung und Entwicklung subventioniert. Vielmehr wird sich China auf ein Schlüsselelement seines wirtschaftlichen Erfolgs der letzten vier Jahrzehnte besinnen müssen, nämlich dem Markt eine entscheidendere Rolle bei der Allokation von Kapital und anderen Ressourcen einzuräumen und die unternehmerische Dynamik, auch in den Online-Sektoren, neu zu beleben.

Ein BIP-Wachstum von 5,5 Prozent im Jahr 2022 stellt eine enorme Herausforderung dar. Wenn die Politik jedoch auf marktorientierte Reformen und Regulierung zurückgreift, bleibt es machbar.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/9n9UN9Fde