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Wenn die Demokratie nicht arbeitnehmerfreundlich ist, wird sie sterben

BOSTON – Auch wenn die befürchtete extremistische Welle bei der Wahl zum Europäischen Parlament in diesem Monat nicht alles hinweggespült hat, hat die extreme Rechte in Italien, Österreich, Deutschland und vor allem in Frankreich gut abgeschnitten. Ihre jüngsten Zuwächse folgen kurz nach größeren Verschiebungen hin zu Rechtsaußen-Parteien, unter anderem in Ungarn, Italien, Österreich, den Niederlanden und Schweden.

In Frankreich kann der überwältigende Sieg von Marine Le Pens Rassemblement National (früher Front National) nicht als reine Protestwahl abgetan werden. Die Partei kontrolliert bereits viele lokale Regierungen, und ihr Erfolg in diesem Monat hat Präsident Emmanuel Macron dazu veranlasst, vorgezogene Neuwahlen anzukündigen – ein riskanter Schritt, der ihr eine parlamentarische Mehrheit verschaffen könnte.

In gewisser Hinsicht ist das nichts Neues. Wir wussten bereits, dass die Demokratie in der ganzen Welt zunehmend unter Druck gerät und sich die Herausforderungen durch autoritäre Parteien intensivieren. Umfragen zeigen, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung das Vertrauen in demokratische Institutionen verliert. Besonders besorgniserregend ist jedoch der Vormarsch der extremen Rechten bei den jüngeren Wählern. Niemand kann jetzt noch abstreiten, dass diese letzte Wahl ein Weckruf war. Doch solange wir die eigentlichen Ursachen für diesen Trend nicht verstehen, werden die Bemühungen, die Demokratie vor dem Zusammenbruch der Institutionen und vor Extremismus zu schützen, kaum erfolgreich sein.

Die einfache Erklärung für die Krise der Demokratie in der gesamten industrialisierten Welt ist, dass das System nicht gehalten hat, was es versprach. In den Vereinigten Staaten sind die realen (inflationsbereinigten) Einkommen am unteren und mittleren Ende der Verteilung seit 1980 kaum gestiegen, und die gewählten Politiker haben wenig dagegen unternommen. Auch in weiten Teilen Europas ist das Wirtschaftswachstum, insbesondere seit 2008, eher schwach. Auch wenn die Jugendarbeitslosigkeit in letzter Zeit zurückgegangen ist, ist sie in Frankreich und mehreren anderen europäischen Ländern seit langem ein großes wirtschaftliches Problem.

Das westliche Modell der liberalen Demokratie sollte für Arbeitsplätze, Stabilität und hochwertige öffentliche Güter sorgen. Während es nach dem Zweiten Weltkrieg größtenteils erfolgreich war, ist es seit etwa 1980 in fast allen Bereichen hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Politiker der Linken wie der Rechten warben weiterhin für Politiken, die von Experten gestaltet und von hochqualifizierten Technokraten ausgeführt werden. Doch diese führten nicht nur nicht zu gemeinsamem Wohlstand, sondern schufen zudem die Voraussetzungen für die Finanzkrise 2008, die den noch verbleibenden schönen Schein des Erfolgs bröckeln ließ. Die meisten Wählerinnen und Wähler kamen zu dem Schluss, dass sich die Politiker mehr um Banker als um Arbeitnehmer kümmern.

Meine eigene Untersuchung in Zusammenarbeit mit Nicolás Ajzenman, Cevat Giray Aksoy, Martin Fiszbein und Carlos Molina zeigt, dass Wähler dazu neigen, demokratische Institutionen zu unterstützen, wenn sie unmittelbar Erfahrungen mit Demokratien gemacht haben, die Wirtschaftswachstum, eine nicht korrupte Regierung, soziale und wirtschaftliche Stabilität, öffentliche Dienstleistungen und geringe Ungleichheit bieten. Es überrascht daher nicht, dass eine Nichterfüllung dieser Bedingungen zu einem Verlust an Unterstützung führen würde.

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Und selbst wenn sich demokratische Führer auf politische Maßnahmen konzentriert haben, die zu besseren Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung beitragen würden, ist ihnen die Kommunikation mit der Öffentlichkeit nicht gut gelungen. So ist etwa eine Rentenreform offensichtlich notwendig, um Frankreich auf einen nachhaltigeren Wachstumspfad zu bringen, aber Macron hat es nicht geschafft, die Öffentlichkeit für seine vorgeschlagene Lösung zu gewinnen.

Die demokratischen Führer haben zunehmend den Bezug zu den tieferen Sorgen der Bevölkerung verloren. Im Falle Frankreichs spiegelt dies teilweise Macrons autoritären Führungsstil wider. Es spiegelt aber auch einen allgemeinen Vertrauensverlustin Institutionen wider sowie die Rolle der sozialen Medien und anderer Kommunikationstechnologien bei der Förderung polarisierender Positionen (sowohl bei den Linken als auch bei den Rechten) und beim Drängen eines Großteils der Bevölkerung in ideologische Echokammern.

Politische Entscheidungsträger und Mainstream-Politiker waren zudem ein Stück weit unsensibel für die wirtschaftlichen und kulturellen Turbulenzen, die Masseneinwanderung mit sich bringt. In Europa äußerte ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren seine Besorgnis über Masseneinwanderung aus dem Nahen Osten, aber Politiker der Mitte (insbesondere Mitte-links) haben sich des Themas nur zögerlich angenommen. Dies bot einwanderungsfeindlichen Rand-Parteien wie den Schwedendemokraten und der niederländischen Partei für die Freiheit eine große Chance, die inzwischen formelle oder informelle Koalitionspartner der Regierungsparteien geworden sind.

Die Herausforderungen, die den Wohlstand für alle in der industrialisierten Welt hemmen, werden im Zeitalter der KI und der Automatisierung noch stärker in den Vordergrund rücken – und das in einer Zeit, in der Klimawandel, Pandemien, Massenzuwanderung und verschiedene Bedrohungen des regionalen und globalen Friedens immer größere Sorgen bereiten.

Doch Demokratie ist nach wie vor am besten dafür gerüstet, mit diesen Problemen umzugehen. Historische und aktuelle Belege machen deutlich, dass nichtdemokratische Regime weniger auf die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung eingehen und benachteiligten Bürgern weniger wirksam helfen. Was auch immer das chinesische Modell versprechen mag, die Beweise zeigen, dass nichtdemokratische Regime das Wachstum auf lange Sicht letztendlich verringern.

Nichtsdestotrotz werden sich demokratische Institutionen und politische Führer erneut dem Aufbau einer gerechten Wirtschaft verpflichten müssen. Das bedeutet, dass Arbeitnehmern und Normalbürgern Vorrang vor multinationalen Unternehmen, Banken und globalen Konzernen eingeräumt und das Vertrauen in die richtige Art von Technokratie gefördert werden muss. Es wird nicht reichen, unnahbare Beamte politische Maßnahmen im Interesse globaler Unternehmen durchsetzen zu lassen. Um Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, künstliche Intelligenz und die Verwerfungen der Globalisierung anzugehen, müssen Demokratien Expertenwissen und öffentliche Unterstützung zusammenbringen.

Das wird nicht einfach sein, denn viele Wähler misstrauen den Parteien der Mitte. Auch wenn die extreme Linke – wie sie in Frankreich von Jean-Luc Mélenchon repräsentiert wird – in Bezug auf ihr Engagement für die arbeitende Bevölkerung und ihre Unabhängigkeit von den Interessen der Banken und der globalen Wirtschaft glaubwürdiger ist als die etablierten Politiker, ist unklar, ob linkspopulistische Politiken wirklich die von den Wählern gewünschte Wirtschaft hervorbringen würden.

Dies zeigt einen Weg für Parteien der Mitte auf. Sie können mit einem Manifest beginnen, das blinde Gefolgschaft gegenüber global agierenden Unternehmen und unregulierte Globalisierung ablehnt und einen klaren, umsetzbaren Plan anbietet, wie sich Wirtschaftswachstum und geringere Ungleichheit miteinander kombinieren lassen. Außerdem sollten sie einen Mittelweg zwischen Offenheit und einer vernünftigen Begrenzung der Migration finden.

Wenn genügend französische Wählerinnen und Wähler im zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen die prodemokratischen Parteien gegen den rechtsnationalen Rassemblement National unterstützen, könnte Macrons gewagte Wette durchaus aufgehen. Aber selbst wenn es klappt, kann es nicht so weitergehen wie bisher. Damit die Demokratie die Unterstützung und das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnen kann, muss sie arbeitnehmerfreundlicher und egalitärer werden.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/UEJAhOtde