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Ein Ende des Protektionismus wäre für alle von Vorteil

WASHINGTON, DC ‑ Die Welthandelsorganisation ist eine der größten Erfolgsgeschichten der Nachkriegszeit. Durch die Festlegung von Regeln, die auf Grundsätzen wie der Nichtdiskriminierung von Handelspartnern und der Gleichbehandlung ausländischer und inländischer Waren beruhen, hat die WTO das Aufblühen des internationalen Handels mit weitreichenden Vorteilen für das Wirtschaftswachstum und die Armutsbekämpfung ermöglicht. In diesem Sinne ist die WTO wie Sauerstoff: Sie ist unverzichtbar, wird aber oft als selbstverständlich betrachtet.

Vor 1800 war der Anteil des internationalen Handels an der Weltwirtschaftstätigkeit sehr gering, da die Transport- und Kommunikationskosten hoch waren und die meisten Länder eine merkantilistische Politik verfolgten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sanken jedoch diese Kosten, und die Handelsschranken wurden zunächst im Vereinigten Königreich und dann in ganz Europa abgebaut. So begann für die heutigen fortgeschrittenen Volkswirtschaften eine Ära außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums.

Diese Periode wurde durch zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise unterbrochen, die zusammen mit protektionistischen Maßnahmen zu einem drastischen Rückgang des Handelswachstums und der Weltproduktion führten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwarfen politische Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks Pläne für eine neue internationale Wirtschaftsarchitektur, die stark von den Erkenntnissen John Maynard Keynes’ geprägt waren. Die Vorläuferorganisation der WTO, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), wurde 1947 gegründet, um die Rechtsstaatlichkeit im internationalen Handel zu gewährleisten.

In den folgenden 50 Jahren wurden die Zölle gesenkt, der Handel florierte und die Industrieländer verzeichneten ein beispielloses und anhaltendes BIP-Wachstum. In den 1980er- und 1990er-Jahren versuchten die Entwicklungsländer zunehmend, an diesem Wachstum teilzuhaben, indem sie ihre eigene protektionistische Politik aufgaben. Um die Jahrtausendwende betrachtete die Welt den offenen Handel und das damit verbundene robuste Wachstum als Selbstverständlichkeit.

Heute ist das internationale Handelssystem jedoch in Gefahr. Die USA, die treibende Kraft hinter dem GATT, haben ihre Führungsrolle zugunsten des Protektionismus aufgegeben und damit die WTO und vor allem ihre Fähigkeit zur Beilegung von Handelskonflikten erheblich geschwächt. Dieser Prozess, der unter Präsident Donald Trump begann, wurde von Präsident Joe Biden fortgesetzt und intensiviert. Die USA haben nun hohe Zölle, insbesondere auf chinesische Waren, und hohe Subventionen für heimische Industrien wie Halbleiter und Solarpaneele eingeführt.

Andere Volkswirtschaften, von Kanada über die Türkei bis hin zur Europäischen Union, reagierten daraufhin mit der Einführung eigener Zölle und Subventionen (die sich häufig gegen die Halbleiterindustrie richten). Wenn alle eine protektionistische Politik verfolgen, verlieren alle: Die Gegenmaßnahmen machen alle Vorteile für die heimische Industrie zunichte, während die Preise für die Verbraucher steigen.

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Erschwerend kommt hinzu, dass Unternehmen außerhalb der USA nun zögern, in den Ausbau ihrer Exportkapazitäten zu investieren, da sie befürchten, dass ihr Zugang zum US-Markt eingeschränkt wird. Obwohl der Welthandel und das BIP nach wie vor wachsen, haben sich die Wachstumsraten verlangsamt. Da sowohl Trump als auch Biden versprochen haben, diesen protektionistischen Kurs nach den diesjährigen Präsidentschaftswahlen fortzusetzen, sind die Aussichten für das Welthandelssystem düster.

Anstatt diesen Wettlauf nach unten fortzusetzen, müssen die Handelsmächte der Welt die Meinungsverschiedenheiten angehen, die den Trend zum Protektionismus nähren, allen voran die „unfairen“ Handelspraktiken Chinas. Die USA und andere marktorientierte Volkswirtschaften beklagen vor allem, dass China seine Exporte stark subventioniert und geistiges Eigentum nicht angemessen respektiert.

Der Schlüssel zur Lösung dieser Probleme und zur Wiederherstellung der Führungsposition der USA im Welthandel liegt in der Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen für private Unternehmen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und für staatlich geförderte chinesische Unternehmen, auch im Bereich des geistigen Eigentums. Zu diesem Zweck müssen die Handelsvereinbarungen im Rahmen der WTO aktualisiert werden, indem die keynesianischen Prinzipien, einschließlich der Gleichbehandlung ausländischer Händler vor inländischen Gerichten, an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts angepasst werden.

Think Tanks und Wissenschaftler sollten sich mit den Details dieser neuen Vereinbarungen befassen, einschließlich der Frage, wie sie durchgesetzt werden können. Beispielsweise könnte es notwendig sein, eine neue internationale Agentur einzurichten, die sicherstellt, dass staatliche und staatlich unterstützte Unternehmen die aktualisierten WTO-Regeln einhalten. Außerdem müssen Mechanismen zur Überwachung und Durchsetzung von Rechten an geistigem Eigentum nach international vereinbarten Standards geschaffen werden.

Die Wiederherstellung eines offenen multilateralen Handelssystems wird nicht einfach sein, aber die Vorteile können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Kleinere Länder haben (im Verhältnis zum BIP) am meisten zu gewinnen und könnten sogar eine Führungsrolle bei der Entwicklung von Plänen anstreben, da das höhere Wirtschaftswachstum, das eine Rückkehr zum Freihandel mit sich bringen würde, dazu beitragen würde, den Lebensstandard überall anzuheben. Es würde die Regierungen auch in die Lage versetzen, die sozialen Sicherheitsnetze zu stärken, um die Gruppen zu schützen, die unweigerlich benachteiligt werden. Und sie würde die politischen Hindernisse für die Finanzierung von Maßnahmen zur Bewältigung globaler Herausforderungen wie des Klimawandels abbauen, die nur durch internationale Zusammenarbeit bewältigt werden können.

Bleibt das globale Handelssystem jedoch auf seinem derzeitigen Kurs, wird das Wirtschaftswachstum hinter seinem Potenzial zurückbleiben, was den Handlungsspielraum der Regierungen bei der Bewältigung sozialer und ökologischer Herausforderungen einschränken und die internationale Zusammenarbeit insgesamt untergraben wird. Die Welt würde ärmer, stärker gespalten und viel anfälliger für neue existenzielle Bedrohungen.

Deutsch von Andreas Hubig

https://prosyn.org/DBMRC6mde