Die heutige Seidenstraße ist gepflastert mit Öl und Imperien

MOSKAU: Im Transkaukasus gilt eine perverse Dialektik: Je mehr man Russland neo-imperialistischer Ambitionen bezichtigt, desto schwächer wird die eigentliche Macht dieses Landes. Und unterdessen wächst der türkische und US-amerikanische Einfluss stetig.

Es ist ein großer Fehler, in Russland – wie im Ottomanenreich vor einem Jahrhundert – den “kranken Mann Europas” zu sehen, der nicht dazu in der Lage ist, seine strategischen und kommerziellen Interessen weiter zu verfolgen, und die traditionellen Verbündeten Russlands in der Region als Staaten zu betrachten, denen jeder ins Gehege kommen kann. In der Tat ist der Gedanke, dass Russland und der Transkaukasus sich einmal voneinander lösen könnten, völlig abwegig. Das Wollknäuel von Verbindungen zwischen Russland und dem Kaukasus ist bereits Jahrhunderte alt und unmöglich zu entwirren. Die Präsenz Russlands reicht weiter als alle Truppen, die es in der Region stationiert hat: gemischte Ehen werden zuhauf geschlossen; die russische Sprache ist die lingua franca der Region und russische Unternehmen wie beispielsweise Gasprom nehmen eine dominierende Stellung ein.

Öl ist, was nicht weiter verwundert, die Wurzel der Auseinandersetzungen im Gebiet des Kaukasus. Leute aus dem Westen wollen die mittelalterliche Seidenstrasse mit Hilfe von Luft- und Landwegen, Schienen und mehrere Millionen US-Dollar teuren Pipelines, aber auch mit Wunschdenken wieder auferstehen lassen. Amerika ist davon überzeugt, dass Öl die Demokratie schmieren und die Unabhängigkeit absichern kann. Und die Türkei sieht in ihrem wachsenden Einfluss in der Region einen Trumpf, den sie bei den Verhandlungen zur EU-Mitgliedschaft ausspielen kann. Die unsicheren Regierungen in der Region schließlich betrachten das Öl als eine Wundermittel, mit dem es ein Leichtes ist, sich Wohlstand und sozialen Frieden zu erkaufen, ohne davor harte Arbeit leisten und gefährliche Reformen vorantreiben zu müssen.

Georgien und sein Präsident Eduard Schewardnadse haben sich diesbezüglich vielleicht am Meisten zu Schulden kommen lassen. Bereits in den 80er Jahren, als er noch Außenminister der ehemaligen UdSSR war, hat Präsident Schewardnadse von einer neuen Seidenstraße geträumt. Wie ein Großteil der Politik in Zeiten der Perestroika war auch dies nur ein weiteres Ziel der sowjetischen Führerschaft, das verfolgt wurde, ohne dass man die wirtschaftlichen Realitäten des Landes berücksichtigt hat.

Georgien, die Heimat Schewardnadses, wurde in dieser Zeit für unvergleichlich wohlhabend gehalten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Öl-Pipeline zwischen Baku und Supsa bringt Georgien beispielsweise weniger Geld ein als seine Mineralwasser-Exporte nach Russland. Doch statt diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen und sich mit praktischen Problemen zu befassen, trompetet die Regierung Georgiens angebliche neue (und riesige) Ölfunde heraus und redet über die geplante Pipeline Baku-Dscheikan. So wie sie reden, sollte man meinen, dass die georgischen Offiziellen bereits Mitglieder in der OPEC sind!

Die Illusionen Aserbaidschans im Hinblick auf seine Größe sind leichter nachzuvollziehen, sie sind aber mindestens ebenso hinderlich. Da das Land ohne Zweifel über Ölvorkommen verfügt, zieht es die Regierung unter Präsident Haider Alijev vor, Spielchen zu spielen und zu diskutieren, wo Öl-Pipelines gebaut werden können, statt sich mit dem tatsächlichen Bau von Pipelines zu beschäftigen. An einem Tag wird der Pipeline über Dscheikan (die an Russland vorbeiführt) der Vorzug gegeben, am nächsten Tag denkt die Regierung darüber nach, eine Pipeline zwischen Baku und Novorossisk in Russland zu errichten.

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Doch der Bau dieser Pipelines stellt ein ökonomische Risiko dar, und selbst wenn Aserbaidschan sich klar darüber werden sollte, ob und wo es eine Pipeline zu bauen gilt, gibt es keine Gewähr dafür, dass damit Geld zu verdienen sein wird. Während die Hotels in Baku mit Männern aus dem Ölgeschäft vollgestopft sind, sind Bankiers, die den Bau der Pipelines finanzieren würden, schwerer ausfindig zu machen. Und unterdessen lehnt die Regierung unter Alijev grundlegende ökonomische Reformen wie Privatisierungen oder den Verkauf von Land ab.

Selbstverständlich sollten Pipelines einen Teil des Entwicklungsplanes für den Transkaukasus bilden, doch das Öl ist nicht alles. Der Verkauf von Öl wird den Menschen in der Region für viele Jahre nicht helfen; für zahlreiche Leute, die unter der zerstörten Wirtschaft des Kaukasus zu leiden haben, ist das Leben nicht weniger hart als für die Menschen im vom Krieg zerrissenen Tschetschenien.

Durch die aufhetzenden Träume von Öl spielen Amerika und die Türkei unter Umständen ein neo-imperialistisches Spiel. Doch was auch immer ihre Absichten sein mögen: durch das Erwecken phantasievoller Hoffnungen vereiteln sie die Möglichkeit wirklicher Reformen – etwas, das der Westen vom Kreml im Übrigen unablässig einfordert.

Da Russland zu beschäftigt ist mit seine eigenen Problemen, hat es weder seine Interessen im Kaukasus verteidigt, noch eine Vision für eine kooperative Entwicklung angeboten. Doch obwohl die Rolle Russlands in der Region an Bedeutung verloren hat, ist die Zusammenarbeit mit Russland unabdingbar, wenn die transkaukasischen Staaten Erfolg haben wollen. Ungeachtet der hohen Arbeitslosenrate haben Hunderttausende von Menschen aus dem Kaukasus Arbeit in russischen Städten angenommen. Der Wert des Geldes, das aus Russland in die Region fließt, übertrifft bei weitem die Mittel aus der Hilfe durch den Westen und aus dem Handel mit ihm. Die Exporte nach Russland entscheiden über Leben und Tod der Produzenten der regionalen Industrie und Landwirtschaft.

Die russische Regierung weiß nur zu gut, dass das Chaos und der Verfall im Süden tiefgreifende ökonomische, soziale und Sicherheitsrisiken mit sich bringen. Das Eindringen der islamischen Fundamentalisten in die Region hängt mit der verkümmerten Wirtschaft des Kaukasus zusammen. Alte tyrannische Gewohnheiten zu durchbrechen – wie beispielsweise den Georgiern strikte Visa-Vorschriften aufzuerlegen – wird nicht einfach sein. Doch der Krieg in Tschetschenien hat offenbart, wie entsetzlich die Alternativen sind.

Die Regierung unter Putin muss ihren verletzten Stolz und ihre Bedenken hinsichtlich des Westens außer Acht lassen und mit nachhaltigen Versuchen beginnen, die Infrastruktur zu verbessern und sich für den Handel in der Region einzusetzen. Nur mit Hilfe eines solchen Programms kann Russland darauf hoffen, schließlich eine wirksame und nicht nur behindernde Rolle bei der Entwicklung des Ölreichtums im Kaukasus zu spielen.

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