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Die Poesie des Euro

PRINCETON – Im krisengeschüttelten Europa ist der Zweck der Einführung einer gemeinsamen Währung erstaunlicherweise fast völlig in Vergessenheit geraten. Statt dessen scheint es dringendere Sorgen zu geben: düstere Spekulationen über den bevorstehenden Kollaps der Eurozone und verzweifelte Versuche, die umfassenden Führungsprobleme institutionell zu reparieren.

Aber der Euro war nicht nur das Ergebnis einer eigentümlichen Mission, den Verschleiß von Hosentaschen voller seltsamer nationaler Münzen zu reduzieren oder den innereuropäischen Handel zu fördern. Das mutige europäische Experiment war das Ergebnis einer neuen Einstellung dazu, was Geld bewirken und wie es verwaltet werden soll. Durch die Entscheidung für eine “reine” Form von Geld, das von einer Zentralbank unabhängig von nationalen Regierungen ausgegeben wird, haben sich die Europäer selbstbewusst über die bisher dominante monetäre Tradition hinweg gesetzt.

Im zwanzigsten Jahrhundert war die Herstellung von Geld – Papiergeld – normalerweise die Aufgabe der Staaten. Geld konnte herausgegeben werden, weil Regierungen die Macht besaßen, die Rechnungseinheit zu definieren, in der Steuern bezahlt werden mussten. Diese Tradition reicht weit vor die Zeit der Papier- oder Fiat-Währungen zurück. Über viele Jahrhunderte hinweg, sogar zur Zeit des Metallgeldes, lag die Definition von Rechungseinheiten – Livre, Mark, Gulden, Florin oder Dollar – beim Staat (oder bei den Trägern politischer Macht).

Der Missbrauch dieser Rolle durch Regierungen, die übermäßige Schulden durch Inflation einzudämmen versuchten, hat sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehr zerstörerisch auf die politische Ordnung ausgewirkt. Diese Tatsache wurde nach dem zweiten Weltkrieg von den liberalen Politikern, die sich dem europäischen Föderalismus am stärksten verpflichtet fühlten, klar erkannt. Direkt nach dem Krieg setzte sich der Wirtschaftswissenschaftler, Zentralbankvorsitzende, Finanzminister und Präsident der italienischen Republik, Luigi Einaudi, für die gemeinsame Sache ein: “Wenn die Europäische Föderation den einzelnen Staaten die Macht wegnimmt, öffentliche Aufgaben über die Druckerpresse zu bezahlen, und sie darauf beschränkt, sich ausschließlich über Steuern und freiwillige Kredite zu finanzieren, wird sie allein durch diese Tat etwas Großartiges geleistet haben.”

Aber in politischen Systemen mit mehrschichtiger Herrschaft ist die Gefahr monetären Missbrauchs nicht geringer, und hat in der Vergangenheit oft zu einem Auseinanderbrechen föderaler Staaten geführt. Denn Inflation ist keine gute Heilung wirtschaftlicher Krankheiten, bei der eine Währungsbehörde förderliche und stimulierende Maßnahmen gleichmäßig über eine ganze Region verteilt. Inflation hängt von der Entscheidung einer Notenbank ab, spezielle Schuldeninstrumente zu monetarisieren.

Schließlich entscheidet sich die Währungsbehörde nicht einfach dafür, alle Verpflichtungen in Geld umzuwandeln. Statt dessen beschließt sie, dass manche Industrien, Banken oder politische Einrichtungen im öffentlichen Interesse gestützt werden müssen. Industrien, Banken und politische Einrichtungen, die dieses Privileg nicht haben, werden sich unweigerlich übergangen fühlen und die Maßnahmen der Zentralbank als Machtmissbrauch sehen. In föderalen Systemen werden in erster Linie solche Unternehmen und politische Einrichtungen vom monetären Stimulus ausgeschlossen und sich übergangen fühlen, die sich weit entfernt von Zentrum befinden.

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Die Hyperinflation im Deutschland der 1920er Jahre fachte den Separatismus in Bayern, im Rheinland und in Sachsen an, da sich diese abgelegenen Gebiete durch die deutsche Zentralregierung und Notenbank in Berlin diskriminiert fühlten. Die Separatisten waren politisch radikal – in Sachsen links- und in Bayern und im Rheinland rechtsextrem.

Derselbe Effekt trat auch später auf: Während der Auflösung des sozialistischen Regimes im Jugoslawien der späten 1980er Jahre fühlten sich die Währungsbehörden in Belgrad unvermeidlich serbischen Politikern wie Slobodan Milošević und den Interessen serbischer Unternehmen am stärksten verbunden. Infolgedessen wollten die Kroaten und Slowenen aus der Föderation aussteigen. In der Sowjetunion wurde die Inflation von den Bürokraten in Moskau zu ihren Zwecken eingesetzt, und auch dort bemühten sich die entfernteren Teile um einen Ausstieg.

Die Konstrukteure des modernen Europas sahen, dass ein instabiles und politisch missbrauchtes Geldsystem für Europa ein Alptraum sein würde, der zu zerstörerischen nationalen Streitigkeiten und Feindschaften führen könnte. Unterstützt wurden sie durch zwei der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaftler des zwanzigsten Jahrhundert, Friedrich von Hayek und John Maynard Keynes.

Hayek war der entschiedenste Kritiker staatlich erzeugten Geldes. Sein Vorschlag konkurrierender Währungen, die im Rahmen eines “freies Bankwesens” durch zahlreiche private Einrichtungen ausgegeben würden, war radikaler als die Lösung, die letztlich in den 1990ern durch die Europäer eingeführt wurde. Aber das Hayeksche Element einer Geld ausgebenden Behörde, die gegen politischen Druck und damit gegen politischen Missbrauch umfassend geschützt ist, war ein zentraler Teil des Maastricht-Vertrages der Europäischen Union. Auch Keynes setzte sich in seiner Planung für die Nachkriegsordnung für eine synthetische globale Währung ein, die Stabilität garantieren und Deflation verhindern würde.

Die Vision einer unabhängigen Zentralbank als notwendiger Teil der Verfassung einer gesunden und stabilen politischen Ordnung war nicht einfach nur ein europäisches Konstrukt der 1990er. Sie fand auch in Gesetzesänderungen für andere Zentralbanken und im wachsenden Prestige von deren Mitarbeitern ihren Widerhall.

Diese Ansicht wird heute ernsthaft auf die Probe gestellt. Nach der schlimmsten Finanzkrise seit dem zweiten Weltkrieg werden die Zentralbanken erneut dazu aufgefordert, die Wertpapiere bestimmter Schuldner zu monetarisieren und andere auszuschließen. Diese Aufgabe der Selektion zwischen Schuldnern ist hochpolitisch und vergiftet die Idee monetärer Stabilität.

Jean-Claude Trichet, bis vor kurzem Präsident der Europäischen Zentralbank, verglich Geld gern mit Poesie, und fügte hinzu, dass beide eine Art von Stabilität schaffen. Diese ungewöhnliche, aber richtige Formulierung lehnt sich an die berühmte Antwort von General August Neidhardt von Gneisenau an den preußischen König an, der von Gneisenaus patriotische Bedenken im frühen 19. Jahrhundert als “nichts weiter als Poesie” abtat. “Sind nicht Religion, Gebet, die Liebe zum Regenten, die Liebe zum Vaterland nichts weiter als Poesie?” fragte von Gneisenau im Gegenzug. “Auf der Poesie gründet sich die Sicherheit des Thrones.”

Ebenso ist stabiles Geld die Grundlage der politischen Ordnung. Wir sollten uns nicht so sehr von der heutigen Krise überwältigen lassen, dass wir dies vergessen.

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