Das Ende der Naturwissenschaften?

Als der Kommunismus zusammenbrach, sprachen die Menschen vom „Ende der Geschichte”. Einige sprechen gegenwärtig auf dieselbe Weise vom „Ende der Naturwissenschaften”. Die Vertreter dieser These behaupten, dass es bereits ein Verständnis für alle grundlegenden Themen gäbe und dass alle großen Fragen schon beantwortet worden wären. Andere geben zu bedenken, dass es sich – selbst wenn einige der grundlegenden Themen offen geblieben sein sollten – bei diesen Themen im Wesentlichen um Abstraktionen handele, die für das menschliche Streben irrelevant seien. Sind also überhaupt noch brennende Probleme übrig geblieben, die die Naturwissenschaftler in Angriff nehmen könnten, oder sollten Naturwissenschaftler nicht vielmehr mit Würde akzeptieren, dass ihre Wissenschaft ein Auslaufmodell darstellt?

Die Diskussion um das Ende der Naturwissenschaften ist nicht neu. Bereits im Jahr 1890 haben berühmte Persönlichkeiten, belebt von der Jahrhunderte alten Erfahrung einer erfolgreichen Anwendung der Newtonschen Gesetze und dem Elektromagnetismus von Faraday und Maxwell, das Ende der Naturwissenschaften verkündet. Doch das darauf folgende Jahrzehnt hat diese Überschwenglichkeit Lügen gestraft. Die Entdeckung der Radioaktivität, der Röntgenstrahlung sowie des Elektrons eröffnete den Forschern eine neue Welt. Und schon bald darauf erreichten die Naturwissenschaften neue Höhen, indem sie die beiden Pfeiler der Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts entwickelten, die sich als revolutionär herausstellen sollten: die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie, ein weiterer zentraler Beitrag Einsteins zur modernen Wissenschaft.

Wird also die Hybris der Menschheit erneut zum Kentern gebracht? Um die Richtung erfassen zu können, in die die Naturwissenschaften sich zu bewegen scheinen, ist es notwendig, etwas darüber zu wissen, wie weit sie bisher gekommen sind. Die Naturwissenschaften entstanden im 16. Jahrhundert als eine quantitative, auf der Mathematik beruhenden Reihe von Gesetzen, mit Hilfe derer die Menschen die unbelebte Welt um sie herum begreifen konnten. Geheimnisse, die noch unter unseren Vorfahren für Verwirrung gesorgt haben, wurden durch eine zunehmend prägnante Reihe von Prinzipien ersetzt, so dass beispielsweise die Flugbahn eines Projektils, das Herunterfallen eines Apfels, die Umlaufbahn des Mondes und die Flugbahn der Planeten quantitativ berechnet werden konnten.

Die Definitionen des Raumes, der Zeit, der Materie und der Energie wurden dank der Naturwissenschaften immer präziser. Komplexe Phänomene wie eine Sonnenfinsternis, die Kometen, die Gezeiten, die Eigenschaften der Materie (z.B. feste Stoffe, Flüssigkeiten und Gase), die Stabilität der Strukturen (etwa von Brücken, Türmen oder Schiffen), das Verhalten des Lichtes, der Prozess der Wärmeverteilung, die Temperatur, die Farben des Regenbogens und die feineren Farben, die von erhitzten Substanzen emittieren, elektrische Aufladung und Magnetismus, Schwerkraft und Radioaktivität konnten alle innerhalb einer kleinen Anzahl von „Naturgesetzen” organisiert werden.

Das zwanzigste Jahrhundert hat zu einem profunden Verständnis der Eigenschaften der physischen Welt geführt, die die Naturwissenschaften heute als „wohlverstanden” betrachten. Sterne, Galaxien, die Evolution des Universums sowie biologische Wesen wie Proteine, Zellen und Gene gelangten alle in die Sphäre der Naturwissenschaften.

Mit einer solchen Auflistung von bereits erreichten Fortschritten bleibt die Frage, welche Erfolge die Naturwissenschaften noch erzielen können. Lassen Sie mich den Fokus auf einige wenige Bereiche richten, in denen in den kommenden Jahrzehnten noch maßgebliche Fortschritte gemacht werden könnten.

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In der Teilchenphysik und in der Kosmologie haben wir einen Punkt erreicht, wo wir uns an der Grenze zur Lösung von Problemen befinden, die die Wissenschaftler schon seit der Antike beschäftigt haben: Was sind die ultimativen Bestandteile der Materie? Wie funktioniert das Universum? Unsere Bestrebung ist es, eine so elegante und zugleich einfache Antwort auf diese Fragen zu finden, dass sie mit Leichtigkeit auf der Vorderseite eines T-Shirts Platz finden kann. Trotzdem haben wir es bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur geschafft, eine wirksame, aber dennoch fehlerhafte Zusammenfassung zu entwickeln, nämlich das so genannte „Standardmodell”, das die gesamte Realität auf ungefähr ein Dutzend Teilchen und vier grundlegende Naturkräfte reduziert.

Warum ist dieses „Standardmodell” fehlerhaft? Ein offensichtlicher Mangel ist die Ästhetik: das Modell ist zu komplex. Das Modell kann uns nicht erklären, warum es so viele grundlegende Teilchen gibt und warum diese sich so sehr voneinander unterscheiden. Ein weiterer Mangel des Standardmodells ist die Tatsache, dass eine der grundlegendsten Kräfte der Natur, nämlich die Anziehungskraft, in dem Modell keine Berücksichtigung findet. Wir sind noch immer auf der Suche nach einer einfachen, alles mit einschließenden Theorie, die alle diese Kräfte miteinander in Einklang bringt.

Diese Bemühung ist besonders für die Kosmologie von Bedeutung, bei der eine friedliche Koexistenz zwischen der Relativität, also der Theorie der Anziehungskraft, und der Quantentheorie notwendig ist, um die Anfänge des Universums begreifen zu können. Während der frühesten Augenblicke nach der Entstehung des Universums durch den Urknall vor 12 Milliarden Jahren war das Universum ausgesprochen klein und dicht; die Naturgesetze waren unter Umständen nur für eine Art von Teilchen und nur eine Kraft maßgebend. Aufgrund dessen ist die Vereinheitlichung der Relativität und der Quantentheorie erforderlich, damit wir ein Verständnis der ersten Momente der Entstehung gewinnen, als sich weitere Teilchen und Kräfte entwickelt haben.

Und mit diesem Verständnis wird es den Kosmologen dann möglich sein zu begreifen, wie dieses dichte Universum anfangen konnte, sich auszudehnen, und warum noch immer mehr als 90% seiner Masse für unsere Instrumente unsichtbar bleiben. Im Laufe der Zeit werden wir beginnen, alle wesentlichen Eigenschaften des Kosmos aufzudecken, um zu erklären, wie ein einziges Ereignis vor Milliarden von Jahren nicht nur Galaxien, Sterne und Planeten entstehen lassen konnte, sondern wie eben dieses Ereignis auch zur Entstehung von Atomen geführt hat, die sich zu lebenden Wesen zusammengesetzt haben, die ihrerseits kompliziert genug sind, um sich Gedanken über ihren Ursprung und ihren Lebenssinn zu machen.

Selbstverständlich behaupten einige Leute, es sei unwahrscheinlich, dass die Physik eine endgültige Erklärung für die Evolution – das Ereignis also, das die Grundlage für die Biologie und die Medizin bildet – liefern werde. Nichtsdestotrotz bin ich der Meinung, dass auch der Anwendung der Prinzipien der Physik auf die Chemie und insbesondere auf die Biologie größere Bedeutung zukommen wird. In dem Maße, in dem die Biologie zu einer quantitativen, „harten” Wissenschaft wird, wird die Physik mit ihren Techniken, ihrer berechnenden Macht und ihren grundlegenden Gesetzen die Biologen mehr und mehr beeinflussen.

In der Tat könnte es zur endgültigen Aufgabe der Physik werden, das gesamte menschliche Wissen zu vereinheitlichen. Edmund O. Wilson, der berühmte Biologe aus Harvard, schrieb in seinem Buch „Consilience” von einer unter Umständen stattfindenden Vereinheitlichung der Naturwissenschaften, der Sozial- und der Geisteswissenschaften. So revolutionär das auch klingen mag, kann man doch schon heute die Möglichkeit dessen erahnen, wenn man die Brücke des menschlichen Bewusstseins betrachtet; scheint doch das Gehirn nach Naturgesetzen zu arbeiten, und diese Gesetze, die sich die Wahrscheinlichkeiten der Quantenwissenschaft und die Komplexität der Chaos-Theorie nutzbar machen, sind vielleicht der logischen Analyse unterworfen.

Wird dieses Wissen Emotionen, Liebe, Musik, Poesie oder Kunst überfallen? Oder wird diese Vereinigung die großen Herrlichkeiten des menschlichen Geistes bereichern? Müssen wir befürchten, dass, wie Keats einst sagte, „der Regenbogen entflochten” wird? Richard Feynman, der große Physiktheoretiker, hat darauf eine einfache, aber dennoch treffende Erwiderung gefunden: „Verringert unser Verständnis der Mechanismen der stellaren Aktivitäten auf irgend eine Weise unsere Dankbarkeit für die Schönheit und die Pracht eines Nachthimmels?”

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