dr3071.jpg Dean Rohrer

Dienstleistungen ohne Tränen

NEW YORK – In den Wirtschaftswissenschaften gibt es eine berühmte Behauptung, dass die Kosten für Dienstleistungen (wie Gesundheitsfürsorge oder Ausbildung) im Vergleich zu den Kosten für Verbrauchsgüter (wie Lebensmittel, Öl oder Maschinen) tendenziell steigen. Dies scheint plausibel: Die Menschen in aller Welt können sich die steigenden Kosten für Gesundheit und schulische Ausbildung kaum noch leisten – Kosten, die jährlich stärker zu steigen scheinen als die allgemeine Inflation. Jetzt aber ist eine deutliche Senkung der Kosten für Gesundheitsfürsorge, Ausbildung und andere Dienstleistungen möglich. Dies liegt an der immer weiter fortschreitenden Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT).

Das Verhältnis der Kosten für Dienstleistungen zu den Güterkosten hängt von der Produktivität ab. Wenn Landwirte immer besser dabei werden, Lebensmittel anzubauen, und Lehrer kaum besser darin werden, Kinder zu unterrichten, fallen die Kosten für Lebensmittel in Relation zu den Ausbildungskosten. Darüber hinaus sinkt der Anteil der Landwirte an der Bevölkerung, da zur Ernährung des Landes weniger Landwirte benötigt werden.

Dieses langfristige Muster konnten wir bereits beobachten: Der Anteil der Arbeitskräfte in der Güterproduktion hat sich verringert, während die Güter im Vergleich zu Dienstleistungen billiger wurden. In den Vereinigten Staaten waren 1950 etwa 4% der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt, 38% in der Industrie (einschließlich Bergbau, Bauwirtschaft und Produktion) und 58% im Dienstleistungssektor. 2010 waren die Anteile etwa 2%, 17% und 81%. In der Zwischenzeit sind die Kosten für das Gesundheits- und Schulwesen ebenso wie für viele andere Dienstleistungen stark gestiegen.

Aber im Dienstleistungssektor ist nun eine Produktivitätsrevolution möglich. Als Professor merke ich dies in meinem eigenen Klassenraum. Seit ich vor dreißig Jahren anfing zu lehren, schien sich die Technologie kaum verändert zu haben. Ich stand vor einer Klasse und hielt eine Vorlesung von einer Stunde Dauer. Sicherlich wurde die Tafel erst durch einen Overhead-Projektor und dann durch PowerPoint ersetzt, aber ansonsten war im “Produktionssystem” Klassenraum wenig Änderung sichtbar.

In den letzten zwei Jahren hat sich alles verändert – zum Besseren. Dienstags morgens um acht schalten wir in der Columbia-Universität einen Computer ein und nehmen gemeinsam mit zwanzig anderen Universitäten aus aller Welt an einem “globalen Klassenraum” teil. Irgendwo hält ein Professor oder ein Entwicklungsexperte einen Vortrag, und viele hundert Studenten hören ihm über Videokonferenz zu.

Die Informationstechnologie revolutioniert den Klassenraum und schickt die Kosten für die Produktion erstklassigen Unterrichtsmaterials in den Keller. Viele Universitäten stellen ihre Kurse kostenlos online, also kann jeder in der ganzen Welt von einer Weltklasseeinrichtung Physik, Mathematik oder Wirtschaft lernen. An der Stanford-Universität haben zwei Professoren der Computerwissenschaft ihre Kurse für Studenten weltweit online gestellt und haben nun 58.000 Anmeldungen dafür bekommen.

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Dieselben Durchbrüche, die heute in der Ausbildung möglich sind, können auch bei der Gesundheitsfürsorge stattfinden. Das Gesundheitssystem der USA ist bekanntermaßen sehr teuer – teilweise deshalb, weil viele der zentralen Kosten von der American Medical Association und privaten Krankenversicherungen kontrolliert werden, die sich wie Monopolisten gebärden und die Kosten in die Höhe treiben. Solche Preismonopole müssen beendet werden.

Es gibt aber auch andere Gründe für hohe Gesundheitskosten. Viele Menschen leiden unter chronischen Krankheiten wie Herzkrankheiten, Diabetes, Fettleibigkeit oder Depression und anderen psychischen Gebrechen. Wenn diese Krankheiten schlecht behandelt werden, können sie sehr teuer werden. Viel zu viele Menschen landen in der Notaufnahme oder im Krankenhaus, weil ihnen Rat und Hilfe fehlen, wie sie ihre Krankheiten ohne stationäre Pflege unter Kontrolle halten können oder sie gar nicht erst bekommen.

Jetzt kommt uns die Informationstechnologie zu Hilfe. Innovative Unternehmen wie CareMore in Kalifornien verwenden IKT dazu, ihre Patienten gesund und vom Krankenhaus weg zu halten. Wenn beispielsweise die Patienten von CareMore zu Hause täglich auf die Waage steigen, wird ihr Gewicht automatisch an die Gesundheitsstation übermittelt. Wenn gefährliche Gewichtsschwankungen aufgezeichnet werden, die von kongestiver Herzinsuffizienz verursacht werden können, wird der Patient zu einer schnellen Untersuchung in die Klinik gebracht, was eine mögliche schwere Krise verhindert.

Diese Ansätze innovativer Unternehmen verbinden drei Ideen: Die erste besteht darin, mithilfe von IKT die Gesundheit von Patienten zu überwachen und sie mit dem Rat von Experten zu versorgen. Zweitens leisten Außendienstmitarbeiter (manchmal “Gemeindekrankenpfleger” genannt) häusliche Pflege, um schlimmere Krankheiten zu verhindern und die hohen Kosten für Ärzte und Krankenhäuser zu vermeiden.

Die dritte Idee besteht in der Erkenntnis, dass viele Krankheiten aufgrund der sozialen Verhältnisse der Patienten auftreten oder schlimmer werden. Vielleicht ist der Patient isoliert, einsam, depressiv, arbeitslos oder leidet unter anderen persönlichen oder familiären Belastungen. Wenn diese sozialen Bedingungen nicht verbessert werden, können sie zu einer teuren oder gar tödlichen Krankheit führen.

Intelligente Gesundheitsfürsorge ist daher ganzheitlich und hilft Menschen nicht nur dann, wenn sie als Patienten in der Notaufnahme auftauchen, sondern sieht sie auch als Individuen und Familienmitglieder zu Hause und in ihren Gemeinschaften. Ganzheitliche Gesundheitsfürsorge ist menschlicher, effektiver und kosteneffizienter. Die IKT-Revolution stellt die Mittel zur Verfügung, um ganzheitliche Gesundheitsfürsorge zu fördern und zu verbessern.

Wirtschaftlich gesehen sind Informations- und Kommunikationstechnologien “zerstörerisch”, da sie die bestehenden, teureren Vorgehensweisen aus dem Feld schlagen. Die Einführung zerstörerischer Technologien ist niemals leicht. Bestehende teure Produzenten und insbesondere fest verwurzelte Monopolisten verweigern sich und werden vielleicht auch von den nationalen Haushaltsbudgets weiter bevorzugt.

Trotzdem sind bei den Dienstleistungen große Kostenersparnisse und Vorteile möglich. Die Volkswirtschaften der Welt, ob reich oder arm, können vom Informationszeitalter und seinen immer schnelleren Innovationen stark profitieren.

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