Egyptian immigrant in Brazil Apu Gomez/Getty Images

Schrödingers Immigrant

PRAG – Wenn mittel- und osteuropäische Politiker zu erklären versuchen, warum sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, neigen sie dazu, einander zu widersprechen. Einige beharren darauf, dass Flüchtlinge den Einheimischen Arbeitsplätze wegnehmen, was impliziert, das Flüchtlinge hart arbeiten; andere beschweren sich, dass Flüchtlinge sich auf Sozialleistungen verlassen, was suggeriert, dass sie nicht genug arbeiten.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán etwa argumentiert Ersteres. Zwischen 2015 und 2016 hat seine Regierung mehr als 50 Millionen Euro für einwandererfeindliche Werbung ausgegeben, darunter für Plakatwandwerbung, die Flüchtlinge warnt, nicht die Arbeitsplätze der Einheimischen anzunehmen.

Dagegen stellen tschechische Politiker wie der frühere stellvertretende Ministerpräsident Andrej Babiš, Innenminister Milan Chovanec und Ex-Präsident Václav Klaus Flüchtlinge und Migranten als Schmarotzer dar, die es auf die großzügigen Sozialleistungen abgesehen haben. Und laut dem derzeitigen tschechischen Präsidenten Miloš Zeman kann man diese Sozialschmarotzer alle in einer einzigen Kategorie bündeln: „Muslime“.

Angesichts dieser gegensätzlichen Darstellungen der Flüchtlinge hat sich in Mittel- und Osteuropa inzwischen ein populäres Meme etabliert: „Schrödingers Immigrant“. Es ist ein Wortspiel, das an Schrödingers Katze anknüpft, ein Paradoxon aus der Quantenphysik, bei dem ein Partikel gleichzeitig in zwei gegensätzlichen Zuständen existieren kann – wie eine in einer Kiste versiegelte Katze, die sowohl tot als auch lebendig ist, bis man sie betrachtet.

[Diagramm]

Laut dem „European Social Survey“ gibt es in Europa wenig Übereinstimmung darüber, ob Flüchtlinge und Migranten anderen ihre Arbeitsplätze wegnehmen oder tatsächlich neue Arbeitsplätze schaffen (siehe obiges Diagramm). Bei Odlišnost (Unterschied), einem Kollektiv aus Wissenschaftlern und Journalisten, haben wir 20 empirische Studien untersucht, um die Auswirkungen zu ermitteln, die die Zuwanderung in Europa und im Nahen Osten zwischen 1990 und 2015 auf einheimische Arbeitnehmer hatte. Alles in allem fanden wir kaum Belege für die Behauptung, dass die Aufnahme einer vertretbaren Zahl von Flüchtlingen und Migranten aus Entwicklungsländern einheimischen Arbeitnehmern ihre Arbeitsplätze wegnimmt.

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Freilich sorgen sich viele Menschen, die nicht glauben, dass Einwanderer Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen, trotzdem, dass die Neuankömmlinge nicht genug zum Steueraufkommen beitragen. Diese Sorge enthält ein Quäntchen Wahrheit. Der zunehmende Anteil an Einwanderern aus Entwicklungsländern umfasst viele weniger gut ausgebildete Arbeitnehmer, insbesondere was Frauen angeht, und dies kann die Einkommen und die Gesamtbeschäftigungsquote der Einwanderer senken.

Doch tragen hoch- und geringqualifizierte Migranten gleichermaßen zu einer effizienten Arbeitsteilung in ihren Gastgeberländern bei, weil kulturelle Unterschiede es ihnen erschweren, mit den Einheimischen zu konkurrieren. Die von uns untersuchten Studien zeigen, dass, was die Löhne angeht, Einwanderer aus eng benachbarten Ländern die Löhne geringqualifizierter Einheimischer einem geringen Abwärtsdruck aussetzen. Bei Einwanderern aus fernen Ländern allerdings verschwindet dieser negative Effekt.

Allgemeiner gesagt bringen Menschen aus anderen Kulturkreisen andere Fertigkeiten und neue Ideen in die Volkswirtschaften ihrer Gastgeberländer mit. Es gibt eine Menge Belege dafür, dass eine hohe Zahl unterschiedlicher Herkunftsländer innerhalb der hochschulgebildeten Erwerbsbevölkerung eines Landes positiv mit dessen Produktivität und Wirtschaftswachstum korreliert. In den USA wurden mehr als 40% der Fortune-500-Unternehmen, darunter Google, Apple und Amazon, von Einwanderern der ersten oder zweiten Generation gegründet.

Dies überrascht nicht. Schließlich sind Migranten tendenziell besser gebildet als ihre Landsleute zu Hause. In Österreich lag der Anteil syrischer und irakischer Asylsuchender mit einer Hochschulausbildung 2015 genauso hoch wie bei der einheimischen Bevölkerung. Angesichts dieser Tatsache leisten Einwanderer aus weit entfernten Ländern möglicherweise sogar einen größeren wirtschaftlichen Beitrag als solche aus benachbarten Ländern.

Der Ökonom Frédéric Docquier von der Universität Löwen und seine Kollegen haben die wirtschaftlichen Auswirkungen untersucht, die die Zuwanderung aus Entwicklungsländern auf die Haushalte, Löhne und Konsummärkte ihrer Gastgeberländer hat. Ihre in Kürze erscheinende Studie über Einwanderer, die zwischen 1991 und 2015 in 20 OECD-Ländern ankamen, stellt fest, dass die einheimische Bevölkerung deutlich von den Beiträgen der Einwanderer profitiert zu haben scheint.

Selbst auf den ersten Blick erscheint das häufig von einwanderungsfeindlichen Politikern vorgebrachte Argument, dass Flüchtlinge und Migranten in die europäischen Länder strömen, um deren Sozialsysteme auszunutzen, seltsam. Deutschland und Schweden werden im Allgemeinen als die Länder mit den großzügigsten Sozialleistungen für Migranten betrachtet, doch es gibt keinen einheitlichen Zuwandererstrom in diese beiden Länder. Im Jahr 2016 flohen viele Syrer nach Deutschland und Skandinavien (siehe nachstehende Grafik). Aber Migranten aus Eritrea zog es häufig in die Schweiz, und viele Afghanen beantragten in Ungarn Asyl.

[Grafik]

Ökonomen, die dieses Thema durch die Linse der „Revealed-Preference-Theorie“ betrachten, würden argumentieren, dass Asylsuchende analytische Entscheider sind, die sich Länder wie Deutschland aufgrund ihrer niedrigen Arbeitslosenquoten aussuchen. Doch Wissenschaftler, die nicht-wirtschaftliche Daten – nicht zuletzt die Antworten von Migranten bei Umfragen – untersucht haben, haben guten Grund, diese Annahme in Zweifel zu ziehen.

Es erweist sich nämlich, dass Asylsuchende in der Regel vor ihrer Ankunft kaum etwas über die Lage auf dem Arbeitsmarkt oder die Sozialleistungen eines Landes wissen. Vielmehr lassen sie sich normalerweise durch die Umstände ihrer Reise leiten. Und wenn sie sich bewusst für ein Land entscheiden, suchen sie tendenziell nach Orten, wo bereits Landsleute oder Verwandte von ihnen leben oder deren Sprache sie aufgrund früherer Kolonialverbindungen sprechen.

Es ist intuitiv plausibel, das es Flüchtlinge in Länder mit schnelleren, großzügigeren Asylverfahren zieht. Doch die Studien haben wiederholt keine signifikante Korrelation zwischen Sozialleistungen und den Entscheidungen von Flüchtlingen über ihre Zielländer feststellen können. Die geringen Kenntnisse, die die Flüchtlinge über die Asylpolitik der unterschiedlichen Länder haben, beruhen häufig auf Gerüchten, die sie von Menschenschmugglern mit wenig Interesse an ihrem Schicksal gehört haben.

Nativistische Politiker werden „Schrödingers Immigranten“ zweifellos als liberales Hilfskonstrukt abtun. Doch wird dieses Meme so lange populär bleiben, wie sich die Nativisten hinter der Sprache der Populärökonomie verstecken. Die Einwanderungsdebatte sollte auf der Grundlage von Fakten entschieden werden und nicht durch die Politik der Angst.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/BrxxCz6de