timmermans3_Elizabeth ServatynskaSuspilne UkraineJSC UAPBCGlobal Images Ukraine via Getty Images_ukrainereconstruction ANATOLII STEPANOV/AFP via Getty Images

Der einzige Weg, den Krieg zu beenden

BRÜSSEL – Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird wie fast alle Kriege am Verhandlungstisch enden. Verhandlungen können jedoch erst dann beginnen, wenn die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt ist. Da ein Sinneswandel in Moskau kurzfristig unwahrscheinlich ist, ist es für die Ukraine und das übrige Europa umso besser, je schneller sie die Mittel erhält, um die russischen Truppen zur Rückkehr nach Russland und zum Verbleib dort zu zwingen.

Wir alle sollten auf eine rasche Beendigung der Kämpfe hinarbeiten. Aber paradoxerweise müssen wir, um dieses Ergebnis zu erreichen, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verdeutlichen, dass wir den Kurs beibehalten und alles tun werden, was nötig ist, solange es nötig ist, damit er sieht, dass es sinnlos ist, unaufhörlich junge Russen in den Fleischwolf der ukrainischen Front zu schicken.

Putin wird diesen Krieg nicht gewinnen. Im Grunde hat er ihn bereits verloren. Aber er könnte ihn verlängern oder es zu einem halb eingefrorenen Konflikt kommen lassen, wenn die Ukraine nicht das bekommt, was sie braucht, um die russischen Truppen zu vertreiben. Damit ein Frieden Bestand hat, muss er gerecht sein. Und um gerecht zu sein, muss er die internationalen Grenzen der Ukraine, ihre Demokratie, ihre Staatlichkeit und ihr Recht, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden, respektieren.

Da Russland seine Aggression mit der Leugnung der ukrainischen Eigenstaatlichkeit rechtfertigt, ist dies von entscheidender Bedeutung. Solche Behauptungen sind das Ergebnis einer russischen nationalistischen und imperialistischen Ideologie, die die Idee einer eigenen ukrainischen Identität ausschließt. Russland definiert das ukrainische Volk als das, was der Nazi-Jurist Carl Schmitt einen „totalen Feind“ nannte, der nicht nur besiegt, sondern auch ausgelöscht werden muss – nicht für das, was er tut, sondern für das, was er ist.

Dies ist Russlands Rechtfertigung für Folter, Entführung von Kindern, Verbrennung ukrainischer Bücher und zahllose Kriegsverbrechen. Die Gewalt, die an Ukrainern verübt wird, weil sie Ukrainer sind, ist vergleichbar mit Stalins Großem Terror, als Millionen unschuldiger Menschen getötet wurden, weil sie „Klassenfeinde“ waren. Stalins Terror „funktionierte“ genau deshalb, weil die Ermordung Unschuldiger jeden dazu zwang, sich dem Willen des Staates zu fügen. Das ist Totalitarismus.

Nachdem Russland in den letzten 15 Jahren immer tiefer in den Autoritarismus abgerutscht ist, ist es nun wieder totalitär geworden. Wer sich nicht fügt, läuft Gefahr, vergiftet zu werden, aus dem Fenster zu fallen oder im Gefängnis zu landen. In dem Maße, wie die Bevölkerung zur Konformität terrorisiert wird, sind die ohnehin schon gefährdeten Gruppen am stärksten von Verfolgung bedroht. Der Antisemitismus hat explosionsartig zugenommen, sexuelle Minderheiten leben in ständiger Angst, und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nehmen überhand.

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Unter diesen Bedingungen wird es lange dauern, bis Russland sich selbst wieder in Ordnung bringt, selbst wenn der Mann, der sein Land zu einem Paria gemacht hat, die Bühne verlässt. Die Entgiftung der russischen Nation könnte eine Generation dauern, und der Ausgang ist alles andere als sicher.

Gemeinsam müssen wir nicht nur dafür sorgen, dass die Ukraine so schnell wie möglich einen gerechten und dauerhaften Frieden erreichen kann, sondern wir müssen auch die Bemühungen der Ukraine unterstützen, sich in ein prosperierendes Land zu verwandeln, dessen Bürger auf Rechtsstaatlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zählen können. In dieser Hinsicht kann der Beitrittsprozess, der zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union führt, transformativ sein. So wie dieser Prozess Griechenland, Spanien, Portugal und den mittel- und osteuropäischen Ländern geholfen hat, ihre diktatorische Vergangenheit zu überwinden, kann er auch die Ukraine gegen eine diktatorische Zukunft impfen.

Zweimal in meinem Leben hat die Geschichte eine scharfe Wendung genommen und Europa in eine neue Richtung gedrängt. Das erste Mal war es der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, der die Wiedervereinigung der Europäer ermöglichte. Das zweite Mal war es, als Russland vor einem Jahr in die Ukraine einmarschierte und die Europäer zwang, die Werte und Institutionen, die ihnen wichtig sind, zu verteidigen und zu stärken.

Mit Blick auf die Zukunft müssen wir anerkennen, dass die Integration der Ukraine in die EU unter den derzeitigen Umständen viel schneller vonstattengehen muss als in der Vergangenheit. Das heißt aber nicht, dass wir die Gründlichkeit auf dem Altar der Zweckmäßigkeit opfern sollten. Eine unvollständige oder mangelhafte Integration würde Unzulänglichkeiten ungelöst lassen und letztlich sowohl die Ukraine als auch die EU schwächen.

Was wir also brauchen, ist eine Reaktion nach Art des Marshallplans. Diese wäre von beispiellosem Ausmaß und würde den Wiederaufbau und die wirtschaftliche Transformation mit den rechtlichen, administrativen und sozialen Reformen verbinden, die erforderlich sind, damit die Ukraine als EU-Mitgliedstaat voll funktionsfähig ist. Das hat es noch nie gegeben, aber es muss jetzt getan werden.

Eine dringende Aufgabe für die Staats- und Regierungschefs der EU wie auch für die nationalen Politiker besteht darin, unsere Bürger darauf vorzubereiten, was dieser Wandel sowohl für Europa als auch für die Ukraine mit sich bringen wird. Parallel dazu muss die EU die erforderlichen wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und administrativen Strukturen aufbauen.

Das russische Regime stellt die Europäer als verweichlichte und dekadente Schwächlinge dar. Ein „Gayropa“ muss sich letztlich der Übermacht des Ultranationalismus beugen, glaubt Putin und hat sogar bestimmte politische Lager in Europa und den Vereinigten Staaten davon überzeugt, indem Politiker und Medienpersönlichkeiten einen „starken Führer“ preisen, der für „traditionelle europäische Werte“ eintritt. Doch das ukrainische Volk entlarvt die Lügen, die dieser Karikatur zugrunde liegen, und bringt Putins westliche Bewunderer in Verlegenheit.

Wir alle müssen erkennen, was hier auf dem Spiel steht. Hundert Jahre nach seinem ersten Auftreten ist der Totalitarismus auf unserem Kontinent wieder aufgetaucht. Wir müssen ihn schnell eindämmen und dann entlarven, damit er besiegt und schließlich vom russischen Volk selbst ausgelöscht werden kann.

In diesem Krieg geht es um so viel mehr als um Gebietsgewinne oder -verluste. Die ukrainische Nation, eine europäische Nation, kämpft um ihr Überleben. Eine imperialistische Ideologie, die die Existenz anderer Nationen leugnet, wird nicht bei einer einzigen aufhören. Wenn sich Russlands Aggression auszahlt, werden die Flammen des Krieges in weiteren europäischen Ländern lodern, und die Autokratie wird sich wie Wundbrand ausbreiten.

Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass wir viel stärker sind als Putin und seinesgleichen, solange wir geeint und entschlossen sind. Lassen wir uns also vom Heldentum des ukrainischen Volkes inspirieren. Je mehr wir es in seinem Kampf unterstützen, desto eher wird das Gemetzel aufhören.

Übersetzung: Andreas Hubig

https://prosyn.org/R2Fmjcede