Was versteht man eigentlich unter dem Begriff „Westen“? Zunächst bezieht sich der Begriff auf ein geographisch fest umrissenes Gebiet, das man als die „euro-atlantische“ oder „euro-amerikanische“ Region bezeichnen könnte. Allerdings ist es ebenso wichtig, wenn nicht sogar von noch größerer Bedeutung, den Westen hinsichtlich seiner Werte und seiner Kultur zu bestimmen. Den Westen eint im Wesentlichen eine gemeinsame politische und wirtschaftliche Geschichte, die sich aus einer Reihe gemeinsamer geistiger Quellen speiste. Viele Jahrhunderte lang befähigte ihn der Charakter seiner Kultur und seines inneren Ethos, einen größeren Einfluss auf andere Regionen auszuüben, und erlaubte es ihm sogar in einem unverhältnismäßig hohen Grad, die heutige Form unserer globalen Ordnung zu bestimmen. Sicherlich wird inzwischen eingesehen, dass der Westen dem Rest der Welt nicht nur viele wunderbare Leistungen gebracht hat, sondern auch weniger lobenswerte Werte. Sie führten zur gewaltsamen Zerstörung anderer Kulturen, zur Unterdrückung anderer Religionen und zur Fetischisierung eines grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstums ohne auf die Folgewirkungen zu achten, die sich daraus ergaben. Allerdings ist unter den gegenwärtigen Bedingungen – besonders für uns, die wir bis vor kurzem noch zum Osten gezählt wurden – von entscheidender Bedeutung, dass der Westen grundlegende Prinzipien wie die Rechtsstaatlichkeit, die Achtung der Menschenrechte, ein demokratisches politisches System und wirtschaftliche Freiheit vertieft und weitergereicht hat. Auch wenn inzwischen viele andere Länder sich zu diesen Werten bekennen, gehören sie doch zu anderen geographischen Gebieten und können daher – und nur aus diesem rein äußerlichen Grund – nicht als Teil des Westens gelten. Doch als Bürger eines ehemals kommunistischen Landes in Europa muss ich zugeben, dass ich mich manchmal sehr unbehaglich fühle, wenn ich die gebetsmühlenartig wiederholten Sprüche über unsere Anlehnung an den Westen höre, die Ausrichtung unserer Politik auf den Westen hin, die Verpflichtung westlicher Organisationen wie NATO und EU, uns so bald wie möglich den Beitritt anzubieten. Bei dieser Rhetorik schwingen oft Untertöne mit, die ich beunruhigend finde. Mein Unbehagen erwächst aus dem uneingestandenen Urteil, das – wenigstens in unserer postkommunistischen Umgebung – die Begriffe „Westen“ und „Osten“ jedenfalls zum Teil einfärbt. Die sowjetische Herrschaft war sowohl in der UdSSR als auch bei ihren europäischen Satelliten von geistiger und physischer Unterdrückung, Gefühllosigkeit, Ignoranz, leerem Monumentalismus und einem allgemeinen Zustand von Rückständigkeit geprägt, der prahlerisch als fortschrittlich dargestellt wurde. Diese Züge standen so offenkundig zu Kultur und Wohlstand im demokratischen Westen im Widerspruch, dass wir dadurch unvermeidlich genötigt waren, den Westen als gut und den Osten als böse wahrzunehmen. Der Begriff „westlich“ wurde somit unvermeidlich gleichbedeutend mit Fortschritt, Kultur, Freiheit und Anstand; der Begriff „Osten“ wurde hingegen auf die Bedeutung von Unterentwicklung, autoritärer Herrschaft und allgegenwärtigem Unsinn eingeschränkt. Natürlich haben uns das Ende der Zweiteilung der Welt und der Fortschritt unserer Zivilisation auf dem Weg, den man heute Globalisierung nennt, gezwungen, uns mit einer grundsätzlich neuen Denkweise über die künftige Weltordnung zu beschäftigen. Dabei wird die unterschwellige Vorstellung von „westlicher“ Überlegenheit und „östlicher“ Minderwertigkeit auf lange Sicht unerträglich. Kein einzelner geographischer und kultureller Bereich kann
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