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Einblicke in den türkischen Staatsstreich von oben

BARCELONA – Jetzt ist es also passiert: Ekrem İmamoğlu – Istanbuls Bürgermeister und aussichtsreichster Herausforderer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen 2028 – wurde nach vier Tagen Untersuchungshaft unter fadenscheinigen Korruptionsvorwürfen offiziell verhaftet. Dieser Schritt hat sich lange angedeutet und lässt sich nicht als bloßes politisches Manöver abtun. Es mag nicht so scheinen, doch so laufen Staatsstreiche heutzutage häufig ab: ohne Blutvergießen und geräuschlos, abgesehen von einem Wimmern einer in Handschellen sterbenden Demokratie.

Nach 23 Jahren an der Macht und angesichts des Zusammenbruchs der türkischen Wirtschaft weiß Erdoğan, dass keine Wahl – auch keine manipulierte – sicher ist. Es blieben ihm also zwei Möglichkeiten: die Wahl abzusagen oder jeden glaubwürdigen Gegner auszuschalten. Aber das Timing war wichtig. Er musste sicherstellen, dass das geopolitische Schachbrett zu seinen Gunsten angeordnet war, bevor er seinen Zug tat.

Das bedeutete, einen Waffenstillstand mit der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) auszuhandeln. Es bedeutete auch, jeglichen Gegenwind seitens der Europäischen Union zu unterbinden. Hierzu drohte Erdoğan damit, Migrantenströme in die EU zu leiten – eine Drohung, die nach dem von ihm mit herbeigeführten Sturz des Regimes des syrischen Diktators Baschar al-Assad an Bedeutung gewann. Und er ließ in einer Zeit, in der das Bekenntnis der USA zur NATO bestenfalls zweifelhaft ist, die militärischen Muskeln der Türkei spielen und sandte damit die klare Botschaft aus, dass die Ostflanke Europas ohne die Türkei gefährlich ungeschützt sei.

Nachdem er sich derart unentbehrlich gemacht hatte, ergriff Erdoğan seine Chance und räumte İmamoğlu aus dem Weg. Dieser Schritt war mit kurzfristigen Kosten verbunden: Die türkische Zentralbank musste die Rekordsumme von zwölf Milliarden Dollar ausgeben, um die Lira zu stützen. Aber die Reaktion der Opposition war bisher das politische Äquivalent zu einem Stolpern über die eigenen Schnürsenkel an der Startlinie.

Die türkische Öffentlichkeit jedoch ist aufgebracht. Seit der Verhaftung İmamoğlus sind Hunderttausende auf die Straßen gegangen, um seine Freilassung und ganz allgemein Gerechtigkeit und Menschenrechte zu fordern. Die Proteste breiteten sich von Istanbul und Ankara rasch nach Adana, Antalya, Çanakkale, Çorum, Edirne, Eskişehir, Kayseri und selbst ins religiös-konservative Konya aus, wo sich mindestens 200 Landwirte, einige mit ihren Traktoren, der Bewegung anschlossen.

Diese Welle öffentlichen Widerstands hat Erdoğan zweifelsohne verunsichert. Versammlungen und Proteste wurden landesweit verboten, und wer sich widersetzte, bekam die bekannten Mittel staatlicher Repression zu spüren: Schlagstöcke, Wasserwerfer und Tränengas. Mehr als 1400 Demonstranten wurden bisher festgenommen.

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Die Regierung hat zudem Reisen nach und aus Istanbul eingeschränkt, den Zugang zu mehreren Social-Media-Plattformen – darunter Instagram, TikTok, X und YouTube – beschränkt, Live-Übertragungen von Kundgebungen und Protesten verboten und mehrere Journalisten verhaftet, darunter Yasin Akgül von Agence France-Presse und den preisgekrönten Fotojournalisten Bülent Kılıç. „Die Türkei ist kein Land, das auf die Straße geht – sie wird sich nicht dem Terrorismus der Straße ergeben“, warnte Erdoğan kürzlich.

Der Boden für die wichtigste Oppositionspartei der Türkei, die Republikanische Volkspartei (CHP), um die Opposition zu vereinen und eine glaubwürdige Alternative zu Erdoğans Führung anzubieten, könnte nicht fruchtbarer sein. Doch alles, was die CHP bisher zu bieten hat, sind abgedroschene populistische und nationalistische Plattitüden, die eher zur vormundschaftlichen Vergangenheit der Türkei passen als zu ihrer existenziellen Gegenwart. Keine Erwähnung der letzten Massenprotestbewegung der Türkei – den Gezi-Park-Demonstrationen von 2013 –, die von einer ähnlich starken Energie aus der Bevölkerung getragen wurden. Kein Eingehen auf die Kurden, die sich wiederholt als wahlentscheidend erwiesen haben und weiterhin unter schwerer Unterdrückung leiden. Und keine Anerkennung der Tatsache, dass dieser Moment größer ist als Parteipolitik.

Dies ist nicht bloß eine Panne oder ein Fehltritt; es ist ein Symptom für ein tieferes Problem. Die CHP klammert sich an eine überholte politische Denkweise, die sich mehr auf die Teilnahme an Wahlen als auf die Verteidigung der Demokratie konzentriert. Das erklärt, warum sich die Demonstranten nicht hinter die Partei stellen, sondern sie höflich, aber bestimmt auffordern, aus dem Weg zu gehen.

Wenn die CHP etwas aus der Verhaftung İmamoğlus lernt, dann hoffentlich, dass die alten Taktiken, die auf dem Glauben beruhen, dass sich Veränderungen durch höfliche Verhandlungen und inszenierte Konfrontationen erreichen lassen, nicht mehr zwecktauglich sind. Das bedeutet nicht nur, dass die Partei ihre Methoden anpassen muss. Vielmehr muss die CHP erkennen, dass sie keine Protagonistin innerhalb der türkischen Politik mehr ist. Diese Rolle gehört jetzt dem türkischen Volk – den Unzufriedenen, Frustrierten und Aufmüpfigen, die in der Verhaftung İmamoğlus nicht den Angriff auf einen einzelnen Mann, sondern auf ihre kollektive Zukunft sehen.

Die Verhaftung İmamoğlus sollte auch als Weckruf für die Beobachter und Wissenschaftler dienen, die nach wie vor überzeugt sind, dass die Türkei ein hybrides Regime ist – in dem der Wahlwettbewerb „real, aber unfair“ ist –, und keine ausgewachsene Autokratie. Selbst die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Lucan Way, die die Idee des „kompetitiven Autoritarismus“ entwickelt haben, revidierten ihre Theorie im Jahr 2020 und äußerten, dass eine neue Generation von Machthabern zur Festigung ihrer Macht „polarisierende populistische und ethnonationalistische Strategien“ einsetze. Wenn die CHP klug ist, wird sie über veraltete akademische Skripte, Umfragewerte und kemalistische Gute-Nacht-Geschichten hinausblicken, um eine Strategie zu entwickeln, die bei den Demonstranten auf Resonanz stößt, statt deren Schwung zu untergraben oder zunichtezumachen.

Eines ist klar: Die alte Türkei ist nicht mehr. Die Frage ist nun, ob das türkische Volk mitbestimmen kann, was auf sie folgt. Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob sich die aktuelle Welle des Volkszorns und der Desillusionierung zu einer kohärenten Bewegung entwickeln wird, die imstande ist, Erdoğan und seine Kumpane auszumanövrieren oder gar zu überwinden. Doch es sollte klar sein, dass, wenn das Spiel manipuliert ist, der Versuch, es besser – durchdachter, gewitzter, mutiger – zu spielen, vergeblich ist. Die einzige Chance auf den Sieg besteht dann darin, das Spielbrett umzustoßen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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