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Ist das „Bruttonationalglück" der Weg voran?

HONGKONG: Während ein Großteil der Welt auf das Streben nach einer Steigerung des BIP, Reichtum und Modernität fixiert ist, hat Bhutan – ein zwischen Indien und China eingezwängtes Königreich mit winziger Bevölkerung und ohne Zugang zum Meer – einen anderen Weg eingeschlagen und legt den Schwerpunkt auf menschliches Glück und Wohlbefinden. Bietet das bhutanische Modell den Schlüssel zu einer wohlhabenden, nachhaltigen Zukunft für alle?

In den 1970er Jahren erklärte Bhutans vierter König, Jigme Singye Wangchuck, dass das BIP weniger wichtig sei als das „Bruttonationalglück“ (GNH). Schließlich sollte das Ziel des Wirtschaftswachstums, wie es der bhutanische Premierminister Lyonchhen Dasho Tshering Tobgay später formulierte, immer die „Zufriedenheit“ der Menschen sicherstellen und sie in die Lage versetzen, „sozial, wirtschaftlich und moralisch bessere Menschen“ zu werden.

Der „GNH-Index“ Bhutans umfasst vier Säulen: nachhaltige und gerechte sozioökonomische Entwicklung, Umweltschutz, Erhaltung und Förderung der Kultur und gute Regierungsführung. Der Index umfasst zudem neun Bereiche: psychologisches Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung, Zeitnutzung, kulturelle Vielfalt und Resilienz, Regierungsführung, Vitalität der Gemeinschaft, ökologische Vielfalt und Resilienz sowie den Lebensstandard. Nach diesen Maßstäben hat Bhutan einige Fortschritte erzielt; der GNH-Gesamtindex ist von 0,743 im Jahr 2010 auf 0,781 im Jahr 2022 gestiegen ist. Doch wie aussagekräftig ist diese Zahl, und lässt sie sich auf die übrige Welt übertragen?

Die Herausforderung bei der Erstellung eines Index besteht nicht nur darin, zu bestimmen, welche Faktoren einbezogen werden sollten, sondern auch, wie sie jeweils zu gewichten sind. Beim Glück wird diese Herausforderung noch dadurch verschärft, dass sich die Stimmung im Laufe der Zeit ändert, und zwar nicht zuletzt aufgrund von Krisen, die von Kriegen bis hin zu Naturkatastrophen reichen, und sogar der Angst vor künftigen Katastrophen. Zudem dürfte die Gewichtung der Faktoren je nach Generation, Geschlecht und ethnischer oder kultureller Gruppe variieren. Die Verwendung eines derart komplexen Indexes für länderübergreifende Vergleiche wäre besonders schwierig.

Vor diesem Hintergrund wurde ein alternativer Index entwickelt. Der 2012 eingeführte World Happiness Report (WHR) bittet national repräsentative Gruppen von Befragten, ihr gegenwärtiges Leben zu bewerten und Einschätzungen zu positiven und negativen Gefühlen abzugeben. Da der WHR wesentlich enger gefasst ist als Bhutans GNH-Index und sich nicht auf Daten stützt, die länderübergreifend nicht weithin verfügbar sind, bietet er ein nützlicheres Mittel zum Vergleich des Wohlbefindens verschiedener Bevölkerungsgruppen.

Die Ergebnisse mögen nicht schockierend sein, aber sie sind aufschlussreich. Bei den Spitzenreitern des WHR handelt es sich in der Regel um kleinere westliche Länder, angeführt von Finnland. Größere westliche Volkswirtschaften schneiden tendenziell schlechter ab: Großbritannien und die USA liegen auf Platz 20 bzw. 23 der Liste. Unter den großen Entwicklungsländern rangiert China auf Platz 60 und Indien auf Platz 126. Insgesamt sind die glücklichsten Länder in der Regel relativ wohlhabend, friedlich und stabil, während Länder, in denen Krieg oder politische und wirtschaftliche Instabilität herrscht, tendenziell am schlechtesten abschneiden. (Afghanistan belegt den letzten Platz.)

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Der WHR zeigt zudem Unterschiede zwischen den Altersgruppen auf. In den USA und Europa wird die allgemeine Zufriedenheit der älteren Generationen zunehmend durch die wachsende Unzufriedenheit der jungen Menschen ausgeglichen. In Südasien hingegen ist das Zufriedenheitsniveau in den letzten drei Jahren in allen Altersgruppen gesunken.

Vor dem nicht im WHR enthaltenen Bhutan liegen noch eine Menge Herausforderungen, und viele davon spiegeln die Tatsache wider, dass der größte Teil der Welt das Engagement des Landes, dem menschlichen Wohlbefinden Vorrang vor dem BIP-Wachstum einzuräumen, nicht teilt. So hat Bhutan beispielsweise seine Wälder, die mehr als 70 % des Landes bedecken, konsequent geschützt, unter anderem durch strenge Beschränkung des Bergbaus. Dies hat dazu beigetragen, Bhutan zu einem der wenigen kohlenstoffnegativen Länder der Welt zu machen, was für den Planeten von großem Nutzen sein kann.

Jüngsten Daten zufolge könnten die Schutzgebiete Bhutans jährlich 5,88 Millionen Tonnen atmosphärisches Kohlendioxid absorbieren und über 300 Millionen Tonnen Kohlenstoff speichern. Würde man für den gebundenen Kohlenstoff einen Preis von 23,2 Dollar pro Tonne (gewichteter globaler Durchschnitt im Jahr 2023) anlegen, würde das fast 90 % der öffentlichen Nettokreditaufnahme Bhutans im Jahr 2024 decken. Leider funktioniert der Weltmarkt für Kohlenstoff nicht sonderlich gut, so dass Bhutan für seinen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt nicht angemessen belohnt wird.

Ganz allgemein ist Bhutan ein sehr kleines Land in einer großen, durch wachsende Ungleichheit gekennzeichneten Welt. Trotz eines BIP von nur etwa 3 Milliarden Dollar beträgt sein BIP pro Kopf knapp 4.000 Dollar. Das ist viel mehr als im Nachbarland Indien (2.500 Dollar) mit seinem BIP von 3,5 Billionen Dollar. Allerdings ist Bhutans Währung an die indische Rupie gekoppelt, in der über 90 % des Handels mit Indien und 70 % der öffentlichen Auslandsschulden des Landes denominiert sind. Infolgedessen ist die Inflationsrate Bhutans untrennbar mit der Indiens verbunden, was zu ernsten wirtschaftlichen Problemen wie z. B. steigenden Transportkosten für gehandelte Güter führen kann.

Auch die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die Bhutan einheimischen Arbeitskräften bieten kann, sind begrenzt. Nach zwei Jahren wirtschaftlicher Kontraktion während der Pandemie erholte sich das reale BIP-Wachstum in Bhutan und erreichte im vergangenen Jahr 4,6 %. Doch war da bereits ein beträchtlicher Teil der gut ausgebildeten jungen Menschen dabei, das Land auf der Suche nach Arbeit zu verlassen. Dreizehntausend Bhutaner wanderten 2023 allein nach Australien aus.

Für ein Land mit 792.000 Einwohnern ist ein derartiges Maß an Abwanderung – 1,64 % in einem einzigen Jahr – ein großes Problem, vor allem, wenn es junge und besser qualifizierte Arbeitnehmer sind, die das Land verlassen. Bhutans Regierung hat einen Plan angekündigt, um mehr hochwertige Arbeitsplätze für seine jungen Menschen zu schaffen. Dieser umfasst unter anderem Gelephu Mindfulness City, das als wirtschaftliches Zentrum dienen soll, das von Bhutans Lage zwischen Süd- und Südostasien profitiert. Die Umsetzung dieses Plans wird jedoch eine Menge ausländisches Kapital und Know-how erfordern.

Die Vorstellung, dass das BIP ein unzureichender Indikator für das Wohlergehen ist, hat in den letzten Jahren an Boden gewonnen. So argumentierten 2009 die Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz und Amartya Sen gemeinsam mit Jean-Paul Fitoussi, dass die präzise Messung der Wirtschaftsleistung und des sozialen Fortschritts es erfordere, „nicht-ökonomische“ Faktoren zu berücksichtigen: welche Möglichkeiten die Menschen haben, wie sie sich fühlen und in was für einem natürlichen Umfeld sie leben, und ob sich ihr Wohlergehen über den Lauf der Zeit hinweg aufrechterhalten lässt. Aber über die Entwicklung und Diskussion alternativer Indizes – ob GNH, WHR oder etwas anderes – hinaus müssen wir sie operationalisieren, und wir müssen Länder wie Bhutan, die dabei eine Vorreiterrolle übernehmen, belohnen und unterstützen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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