Durch Sparen Lehren für das Wachstum ziehen

MAILAND – In einer aktuellen Studienreihe verwendeten  Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff eine riesige Menge historischer Daten um zu zeigen, dass die Anhäufung hoher öffentlicher (und privater) Schulden in Relation zum BIP einen erweiterten negativen Effekt auf das Wachstum ausübt. Das Ausmaß dieses Effekts löste eine Debatte über Fehler in ihren Berechnungen aus. Doch nur wenige zweifeln an der Gültigkeit des Schemas an sich.

Das sollte keine Überraschung sein. Die Anhäufung exzessiver Schulden bringt in der Regel eine zeitliche Vorverlegung eines Teils der inländischen Gesamtnachfrage mit sich, wodurch der Ausstieg aus den Schulden höhere Ersparnisse und eine verminderte Nachfrage einschließen muss. Der negative Schock wirkt sich nachteilig auf den Sektor nicht handelbarer Güter aus, der groß (etwa zwei Drittel einer hoch entwickelten Volkswirtschaft) und völlig von der Binnennachfrage abhängig ist. Infolge dessen sinken Wachstums- und Beschäftigungsraten während der Phase der Entschuldung.

In einer offenen Ökonomie beeinträchtigt die Entschuldung den handelbaren Sektor nicht unbedingt so grundlegend.  Aber sogar in einer derartigen Wirtschaft könnten Jahre der schuldengetriebenen Inlandsnachfrage zu einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und strukturellen Verzerrungen führen. Und die Krisen, die oftmals zwischen den Phasen der Schuldenaufnahme und der Entschuldung stehen, verursachen zusätzlichen Schaden in den Bilanzen und verlängern den Heilungsprozess.

Teilweise dank der Forschungsergebnisse von Reinhart und Rogoff wissen wir, dass übermäßige Schulden untragbar sind und dass die Wiederherstellung des Gleichgewichts seine Zeit dauert. Infolge dessen bleiben Fragen und Zweifel, wann die Rückkehr zu Vorkrisen-Trends hinsichtlich BIP und vor allem im Beschäftigungsbereich zu schaffen ist.  

Diese Forschungsrichtung sagt uns jedoch ausdrücklich nicht, dass Wachstum allein durch Entschuldung wieder hergestellt wird. Kein Mensch glaubt, dass ein ausgeglichener Haushalt irgendwo schon das ganze Wachstumsmodell darstellt.  

Man denke an Südeuropa. Aus dem Blickwinkel von Wachstum und Beschäftigung betrachtet, verschleierten öffentliche und private Schulden die Abwesenheit des Produktivitätswachstums, die sinkende Wettbewerbsfähigkeit auf dem handelbaren Sektor und eine Reihe zugrunde liegender struktureller Defizite – einschließlich der Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt, Mängel im Bildungs- und Ausbildungswesen sowie ungenügender Investitionen in die Infrastruktur. Die Schulden trieben das Wachstum an und schufen eine Gesamtnachfrage, die es andernfalls nicht gegeben hätte. (Das Gleiche gilt auch für die Vereinigten Staaten und Japan, obschon Unterschiede in den Details bestehen.) 

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Der Staat ist nicht der alleinige Akteur in dieser Situation. Mit Beginn eines Entschuldungszyklus beginnt auch der private Sektor mit Strukturanpassungen – dieses Muster geht klar aus den Wachstumsdaten des handelbaren Sektors der US-Wirtschaft hervor. Gedämpftes Lohnwachstum steigert die Wettbewerbsfähigkeit und wenig ausgelastete Arbeitskräfte sowie ungenutztes Kapital werden wieder eingesetzt.

Wie schnell das geschieht, hängt teilweise von der Flexibilität und Dynamik des privaten Sektors ab. Doch es hängt auch von der Fähigkeit und Bereitschaft des Staates ab, für eine Überbrückung des Mangels an Gesamtnachfrage zu sorgen, Reformen umzusetzen und Investitionen zu tätigen, die die langfristigen Wachstumsaussichten verbessern. 

Wenn nun die Entschuldung des öffentlichen Sektors keine vollständige Wachstumsstrategie ist – und das ist sie eben nicht – stellt sich die Frage, warum sich alle Aufmerksamkeit auf Sparmaßnahmen richtet und (außer Lippenbekenntnissen) so wenig für Wachstum und Beschäftigung unternommen wird.

Hier sind mehrere Möglichkeiten denkbar – die sich nicht gegenseitig ausschließen. Eine dieser Möglichkeiten ist, dass manche politische Entscheidungsträger denken, ein ausgeglichener Haushalt sei tatsächlich die wichtigste Säule einer Wachstumsstrategie: Man baue die Schulden rasch ab und bleibe dran.

Die Vorstellung, dass der Fiskalmultiplikator in der Regel niedrig ist, könnte zu einer Unterschätzung der kurzfristigen ökonomischen Kosten der Austeritätspolitik -  und zu den anhaltend optimistischen Prognosen hinsichtlich Wachstum und Beschäftigung - beigetragen haben. Jüngste Forschungsergebnisse des Internationalen Währungsfonds über die kontextspezifische Variabilität von Fiskalmultiplikatoren werfen ernsthafte Fragen hinsichtlich der Kosten und Wirkung einer raschen Haushaltskonsolidierung auf.

Schätzungen des Fiskalmultiplikators müssen auf Grundlage einer Annahme oder eines Modells erstellt werden, aus dem hervorgeht, was ohne bestimmte staatliche Ausgaben geschehen wäre. Sind Annahme oder Modell falsch, ist es auch die Schätzung. Die kontrafaktische Konstellation muss deutlich herausgearbeitet und sorgfältig im Kontext bewertet werden.

In manchen Ländern mit hohen Schulden und beeinträchtigtem Wachstum könnten Konjunkturmaßnahmen die Risikoaufschläge für Staatsanleihen in die Höhe treiben und sich daher als kontraproduktiv erweisen. Andere Länder könnten flexibler agieren. Zwischen den Ländern bestehen große Unterschiede im Hinblick auf den Schaden für die Haushaltsbilanz, der den Sparwillen– und damit auch den Multiplikatoreffekt- deutlich beeinträchtigt. Ungewissheit ist eine Realität und hier ist es nötig, abzuwiegen.

Dann ist da noch die zeitliche Dimension. Wenn beispielsweise Infrastrukturinvestitionen kurz- bis mittelfristig für etwas Wachstum und Beschäftigung und längerfristig für höheres nachhaltiges Wachstum sorgen, stellt sich die Frage, ob man sie verwerfen sollte, weil manche Schätzungen des Multiplikators einen Wert von weniger als eins ergeben. Und wenn Konjunkturbelebungsmaßnahmen eine gedämpfte Wirkung aufweisen, weil die Einkommensbezieher ihr Geld sparen, um ihre persönliche Haushaltsbilanz aufzubessern, ist nicht klar, ob die Vorteile einer beschleunigten Entschuldung berücksichtigt werden sollen, auch wenn sie sich in der Inlandsnachfrage erst später zeigt.

Politische Entscheidungsträger (und möglicherweise die Finanzmärkte) haben vielleicht geglaubt, dass Zentralbanken durch aggressive unkonventionelle Geldpolitik eine angemessene Überbrückung bieten würden, die dazu angetan ist, kurz- und langfristige Zinssätze niedrig zu halten. Natürlich haben die Zentralbanken eine maßgebliche Rolle gespielt, aber sie haben klargestellt, dass sie nicht über die politischen Instrumente verfügen, um die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung zu beschleunigen.

Zu den Kosten und Risiken ihrer Niedrigzinspolitik gehören eine Rückkehr zu schuldenfinanzierten Wachstumsmustern und eine zunehmende Unsicherheit hinsichtlich der Grenzen der Bilanzausweitung einer Zentralbank. Mit anderen Worten: werden die aufgrund niedriger Leitzinsen höheren Werte der Aktiva plötzlich zu einem bestimmten Zeitpunkt nach unten zurückkehren? Das weiß niemand. 

Länder unterliegen in unterschiedlichem Ausmaß fiskalischen Beschränkungen, wobei (vor allem im Falle Europas) von einem begrenzten Verlangen nach unlimitierten, bedingungslosen grenzüberschreitenden Transfers ausgegangen werden kann. Diejenigen, die über einige Flexibilität verfügen, sollten diese einsetzen, um die Arbeitslosen und Jungen zu schützen, die Entschuldung zu beschleunigen und Reformen umzusetzen, die Wachstum und Beschäftigung unterstützen. Die Optionen anderer Länder  – und daher auch deren mittelfristige Wachstumsaussichten – sind beschränkter.

Alle Länder – und ihre politischen Entscheidungsträger – stehen vor schwierigen Entscheidungen im Hinblick auf die zeitliche Planung von Sparmaßnahmen, staatliche Kreditrisiken, wachstumsorientierte Reformen und die gerechte Verteilung der Kosten, die durch eine Wiederherstellung des Wachstums anfallen. Bislang könnte die Herausforderung der Lastenverteilung neben naiven und unvollständigen Wachstumsmodellen zu Stillstand und Untätigkeit beigetragen haben.

Die Erfahrung kann ein strenger, wenngleich notwendiger Lehrmeister sein. Das Wachstum wird nicht leicht oder rasch wiederherzustellen sein. Vielleicht haben wir die Beschäftigung mit Austeritätspolitik gebraucht, damit sie uns den Wert einer ausgeglichenen Wachstumsagenda lehrt.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/uITY8Skde