Moralische Dilemmata für Fannie und Freddie

NEW HAVEN: Die Übernahme der Hypothekengiganten Fannie Mae und Freddie Mac durch die US-Regierung stellt einen enormen Bailout der Gläubiger dieser Institutionen dar, deren Verluste sich angesichts fallender Häuserpreise immer weiter aufgebläht hatten. Jetzt, da die Regierung komplett für Fannies und Freddies Schulden einsteht, werden Amerikas Steuerzahler all das zahlen müssen, was nicht durch die unzureichenden Finanzmittel ihrer Gläubiger abgedeckt ist.

Warum eine solche Rettungsaktion im unverhohlen kapitalistischsten Land der Welt? Beinhalten die altehrwürdigen Prinzipien des Kapitalismus nicht, dass jene, die an die Immobilienblase geglaubt und ihr Geld in Fannie und Freddie investiert haben, nun deren Verluste akzeptieren müssen? Ist es fair, dass jetzt unschuldiger Steuerzahler deren Fehler ausbaden müssen?

Die Antworten auf diese Fragen wären offensichtlich, wenn die moralischen Probleme der gegenwärtigen Finanzkrise klar umrissen wären. Aber sie sind es nicht.

Vor allem ist unklar, ob der Bailout die US-Steuerzahler unterm Strich tatsächlich etwas kosten wird. Möglicherweise verhindert er weitere systemische Effekte, die den Finanzsektor und damit die Weltwirtschaft in die Knie zwingen würden. Nur weil sich systemische Effekte schwer quantifizieren lassen, kann man daraus nicht folgern, dass es sie nicht gibt.

Zudem wurden die von Fannie und Freddie ausgegebenen Anleihen weithin so angesehen, als wären sie mit einer stillschweigenden Garantie der US-Regierung ausgestattet. Obwohl es keine offizielle Garantie gab, könnte das Ausbleiben einer Rettungsaktion seitens der US-Regierung das Vertrauen in Staatspapiere und – weil sie mit diesen in Verbindung gebracht werden – auch in andere Finanztitel untergraben.

Die Probleme reichen weit über die US-Wirtschaft hinaus. Die Weltwirtschaft wurde in den letzten Jahren durch bemerkenswerte spekulative Höhenflüge und Abstürze von Anlagewerten angetrieben, was Fragen des Vertrauens, aber auch der Fairness in die Gleichung einbringt. Auch in vielen anderen Ländern gehen derzeit ähnliche Höhenflüge des Häusersektors zu Ende, und sie stehen möglicherweise vor denselben Qualen – und denselben moralischen Dilemmata –, die die US-Wirtschaft derzeit durchlebt.

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Und das Problem sind nicht allein die Häusermärkte. Die Aktienmärkte sind es auch. Der chinesische Shanghai Composite Index stieg zwischen 2005 und 2007 um den Faktor 5 und verlor dann zwei Drittel seines realen Wertes. Der Sensex in Indien stieg zwischen 2003 und 2007 real um den Faktor 5 und hat seitdem ein Drittel seines Wertes verloren. Ähnliche Höhenflüge und Abstürze der Aktienmärkte haben sich in vielen weiteren Ländern ereignet.

Solange sie anhielten, führten die diesen Abstürzen vorangehenden Boomphasen zur Überhitzung dieser Volkswirtschaften. Nun, da sie sich umgekehrt haben, könnte ein Vertrauensrückgang die Weltwirtschaft ergreifen und sie in die Rezession stürzen. Um dies zu verhindern, dürften einige ausgewählte Bailouts erforderlich sein – nicht zur Stützung des Marktes, sondern um Ungerechtigkeiten zu begegnen.

Es gibt keine präzise Wissenschaft vom Vertrauen, keine Möglichkeit, vorherzusagen, wie Menschen reagieren, wenn angesichts zusammenbrechender Märkte die Hilfe ausbleibt. Die Reaktionen der Leute auf diese Ereignisse sind von ihren Gefühlen und ihrem Sinn von Gerechtigkeit abhängig.

Die beschriebenen Höhenflüge und Abstürze haben eine große Umverteilung von Vermögen verursacht. Wer an der Börse oder auf dem Häusermarkt investierte, schnitt je nach Timing gut oder schlecht ab. Die Leute werden die Fairness dieser Ergebnisse danach beurteilen, was man ihnen erzählt hat und welche stillschweigenden Versprechungen sie daraus ableiteten.

Was wurde den Menschen in all diesen Ländern über die Märkte, in die sie ihr Geld investierten, erzählt? Entsprach wirklich alles der Wahrheit? Es gibt leider keinen Weg, das herauszufinden. Die Politik kann lediglich allgemein reagieren und nicht alle Fälle einzeln behandeln.

Wir wissen, dass das Wirtschaftswachstum der jüngsten Zeit in vielen Ländern spektakulär war. Aber wurden die Kapitalanlagen in ihre Märkte zu teuer verkauft? Haben zynische Verkäufer hier und anderswo die Menschen zu der Annahme verführt, dass die Boomzeiten Wohlstand für alle bringen würden?

Sicher ist, dass, obwohl es eine Menge „billiges Geschwätz“ – allgemeine Ratschläge unter Vorbehalt – gegeben haben mag, die meisten der Verlierer bei diesem Spiel nicht am Hungertuch nagen. Doch wir können hieraus nicht unbekümmert schließen, dass man all ihre Verluste uneingeschränkt stehen lassen sollte.

Das nagende Problem ist eines von „Treu und Glauben“. Volkswirtschaften florieren nur, wenn „Treu und Glauben“ herrschen. Die gegenwärtige Situation, in der spekulative Höhenflüge die Weltkonjunktur angetrieben haben – und sie nun, nach ihrem Zusammenbruch, in die Rezession treiben –, legt nahe, dass Leute, die bestimmte Kapitalanlagen angepriesen haben, dies wider Treu und Glauben getan haben.

Man nehme die Anleger, die Anleihen von Fannie und Freddie gezeichnet haben. Obwohl die US-Regierung nie offiziell versprach, ihnen in der Not beizuspringen, schuf sie eine besondere Agentur, das Office of Federal Housing Enterprise Oversight , dessen Aufgabe darin bestand, ihre Stärke in einem Jahresbericht zu beurteilen. Diese Agentur aber hat nie auch nur eingestanden, dass es eine Häuserblase gab. Die Spitzen der Regierung äußerten nie eine Warnung. Können wir also wirklich behaupten, dass die Anleger sämtliche Folgen ihrer Verluste tragen müssen? Wie könnte dies fair sein?

Die Welt ist dabei, den Kapitalismus und seine Macht, Volkswirtschaften zu verwandeln, zu entdecken. Doch der Kapitalismus ist auf Treu und Glauben angewiesen. Eine als unfair empfundene Behandlung kann für das Wirtschaftswachstum tödlich sein, denn sie bedeutet, dass die Menschen ihr Vertrauen in die Unternehmen einbüßen und daher weniger bereit sind, ihnen ihr kostbares Kapital und ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Ist ein derartiges Ergebnis einem Bailout moralisch vorzuziehen?

https://prosyn.org/HRf5LOude