pa3850c.jpg Paul Lachine

Das Versagen der freien Finanzmärkte

LONDON – Fünf Jahre nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers hat die Welt die grundlegende Ursache der anschließenden Finanzkrise immer noch nicht in Angriff genommen: die übermäßige Verschuldung. Und das ist der Grund, warum die wirtschaftliche Erholung wesentlich langsamer fortgeschritten ist als erwartet (in einigen Ländern gab es überhaupt keine).

Die meisten Wirtschaftswissenschaftler, Zentralbankchefs und Regulierungsbehörden haben nicht nur beim Vorhersehen der Krise versagt, sondern glaubten auch, dass die Stabilität der Finanzmärkte so lange sicher war, wie die Inflation niedrig und stabil blieb. Und sobald die akute Krise eingedämmt war, haben wir nicht erkannt, wie schmerzhaft ihre Folgen sein würden.

Offizielle Prognosen im Frühjahr 2009 sahen weder eine langsame Erholung voraus, noch dass die ursprüngliche Krise, die im Wesentlichen auf die Vereinigten Staaten und Großbritannien beschränkt war, bald eine Folgekrise in der Eurozone auslösen würde. Zudem prognostizierten die Marktkräfte nicht einmal ansatzweise Zinssätze nahe null für fünf Jahre (und weitere folgen).

Ein Grund für diesen Mangel an Weitblick war die unkritische Bewunderung für Finanzinnovationen; ein weiterer war die inhärent fehlerhafte Struktur der Eurozone. Der wesentliche Grund war aber, dass nicht begriffen wurde, dass hohe Schuldenlasten, die seit mehreren Jahrzehnten unerbittlich gestiegen waren – im Privatsektor noch mehr als im öffentlichen Sektor –, eine große Gefahr für die wirtschaftliche Stabilität darstellten.

1960 betrugen die Schulden von Privathaushalten in Großbritannien unter 15 % des BIP; 2008 lag die Quote bei über 90 %. In den USA stieg das private Kreditvolumen insgesamt von etwa 70 % des BIP 1945 auf weit über 200 % im Jahr 2008. Solange die Schulden im Privatsektor blieben, nahmen die meisten Entscheidungsträger an, dass ihre Auswirkungen entweder neutral oder positiv wären. So bemerkte der ehemalige Gouverneur der Bank of England, Mervyn King: „Geld, Kredite und Banken spielen keine bedeutsame Rolle“, in weiten Teilen der modernen Volkswirtschaft.

Diese Annahme war gefährlich, da Schuldinstrumente wichtige Auswirkungen auf die Wirtschaftsstabilität haben. Häufig werden sie im Übermaß geschaffen, da riskante Kredite im Aufschwung des Wirtschaftszyklus risikofrei erscheinen. Und sobald sie da sind, bringen sie rigide Ausfall- und Insolvenzprozesse mit sich, und es gibt viel Potenzial für Notverkäufe und Störungen von Geschäftsabläufen.

PS_Sales_BacktoSchool_1333x1000_Promo

Don’t go back to school without Project Syndicate! For a limited time, we’re offering PS Digital subscriptions for just $50.

Access every new PS commentary, our suite of subscriber-exclusive content, and the full PS archive.

Subscribe Now

Außerdem können Schulden zu Zyklen der Überinvestition führen, wie Friedrich von Hayek beschrieben hat. Die Immobilienbooms in Irland und Spanien sind hierfür Paradebeispiele. Und Schulden können bei den Preisen für vorhandene Vermögenswerte zu Booms und Einbrüchen führen: Der Wohnungsmarkt in Großbritannien in den letzten Jahrzehnten ist ein solcher Fall.

In guten Zeiten kann es durch steigende Fremdfinanzierung so aussehen, als wären tieferliegende Probleme verschwunden. So gaukelte die Hypothekenvergabe an eigentlich kreditunwürdige Kunden den Amerikanern steigenden Wohlstand vor, als sie eigentlich an stagnierenden oder fallenden Reallöhnen litten.

Doch haben akkumulierte Schulden im Abschwung nach der Krise einen stark depressiven Effekt, weil überschuldete Unternehmen und Verbraucher ihre Investitionen und ihren Verbrauch zurückschrauben, um ihre Schulden abzubezahlen. Japans verlorene Jahrzehnte nach 1990 waren die direkte und unvermeidbare Folge der exzessiven Fremdkapitalaufnahme in den 1980er Jahren.

Wenn Privatinvestitionen und ‑verbrauch niedrig sind, können steigende Haushaltsdefizite nützlich sein, um die Deflationseffekte auszugleichen. Doch wird die Fremdfinanzierung dadurch lediglich in den öffentlichen Sektor verschoben, wobei jede Verringerung des Verhältnisses der privaten Schulden zum BIP durch eine Steigerung der staatlichen Schuldenquote mehr als ausgeglichen wird: Dies belegt die hohe und steigende Schuldenlast der irischen und spanischen Regierung.

Die private Fremdfinanzierung muss daher ebenso wie die staatliche Schuldenlast als entscheidende ökonomische Variabel behandelt werden. Dass sie vor der Krise ignoriert wurde, war ein großes Versagen der Wirtschaftswissenschaft und ‑politik, durch das die Bürger vieler Länder stark gelitten haben.

Zwei Fragen ergeben sich hieraus. Die erste lautet, wie wir aus dem aktuellen Überhang an privaten und staatlichen Schulden herausfinden. Es gibt keine einfachen Optionen. Die privaten und staatlichen Schulden gleichzeitig abzubezahlen schwächt das Wachstum. Eine schnelle Haushaltskonsolidierung kann somit selbstzerstörerisch sein. Doch gleicht man die Sparmaßnahmen durch eine extrem laxe Geldpolitik aus, läuft man Gefahr, die private Verschuldung in den Industrieländern wieder anzukurbeln. Außerdem hat diese Politik schon zu gefährlichen Auswirkungen auf die Schwellenländer geführt, wo die Fremdfinanzierung ebenfalls steigt.

Gebraucht wird sowohl Realismus als auch eine einfallsreiche Politik. Es ist offensichtlich, dass Griechenland seine gesamten Schulden nicht zurückzahlen kann. Doch sollte auch offensichtlich sein, dass Japan niemals in der Lage sein wird, einen Primärüberschuss zu erwirtschaften, der groß genug wäre, um seine Staatsschulden zurückzubezahlen – im üblichen Sinne des Wortes „zurückbezahlen“. Eine Kombination aus Umschuldung und permanenter Monetarisierung der Schulden (eine quantitative Lockerung, die nie umgekehrt wird) ist in einigen Ländern unvermeidbar und angebracht.

Die zweite Frage lautet, wie man fremdfinanziertes Wachstum in Zukunft begrenzt. Zu diesem Zweck braucht man Reformen mit einem anderen Schwerpunkt als bisher. Es ist sicher wichtig, das Problem der systemrelevanten Banken zu lösen, die zu groß sind, um unterzugehen. Aber die direkten Kosten der Bankenrettungen für den Steuerzahler waren Peanuts im Vergleich zu dem Schaden, den die Finanzkrise angerichtet hat. Zudem könnte auch ein Bankensystem, das nie von den Steuerzahlern bezuschusst wurde, weiterhin eine übermäßige Fremdfinanzierung des Privatsektors stützen.

Gebraucht wird eine weitreichende politische Antwort, die leistungsstärkere antizyklische Kapitalinstrumente kombiniert, als sie derzeit unter Basel III geplant werden, ferner die Wiedereinführung quantitativer Reserveanforderungen als politisches Instrument der Zentralbanken in den Industrieländern und schließlich direkte Einschränkungen für Kreditnehmer, zum Beispiel Obergrenzen für das Darlehen im Verhältnis zum Einkommen oder zum Immobilienwert bei Krediten für Wohn- und Gewerbeimmobilien.

Diese Maßnahmen kämen einer Zurückweisung der orthodoxen Lehre vor der Krise gleich, die besagte, dass freie Märkte im Finanzwesen ebenso wertvoll sind wie in anderen Wirtschaftssektoren. Diese Lehre hat versagt. Wenn wir uns nicht der grundlegenden Tatsache stellen, dass freie Finanzmärkte ein schädliches Niveau an Fremdfinanzierung im Privatsektor erzeugen können, haben wir die wichtigste Lektion aus der Krise von 2008 noch nicht gelernt.

Aus dem Englischen von Anke Püttmann

https://prosyn.org/cYojNU1de