LJUBLJANA – Die Frau eines Trinkers liegt mit ihrem Liebhaber im Bett, als ihr Ehemann unerwartet hereinkommt und sich unter die Bettdecke legt. „Liebling, ich bin so betrunken, dass ich am Ende des Betts sechs Beine sehe“, sagt er. „Keine Sorge“, antwortet sie, „Geh einfach rüber zur Tür und schau nochmal von dort“. Dies tut er und meint erleichtert: „Du hast Recht, es sind nur vier Beine!“
Dieser Witz mag vulgär sein, aber er beschreibt ein wichtiges Phänomen: Meist glaubt man, eine Situation von außen klarer überblicken zu können, als wenn man direkt beteiligt ist. Aber manchmal ist es genau diese außenstehende Position, die einen für die Wahrheit blind macht. In dem Witz bekommt der Ehemann (der bei der Tür steht) aus der Entfernung den falschen Eindruck, beteiligt zu sein, und deshalb hält er die Beine des Liebhabers für seine eigenen.
Eine ähnliche Dynamik findet man hinsichtlich der westlichen Unterstützung für die Ukraine. Wir ignorieren die Tatsache, dass die größten Gewinner des ukrainischen Kampfes wahrscheinlich ein paar dortige Oligarchen sein werden. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn die Nachkriegsukraine der Vorkriegsukraine ähneln wird – einem Land, das durch eine Oligarchie korrumpiert und von großen westlichen Konzernen kolonialisiert ist, die die besten räumlichen und natürlichen Ressourcen unter ihrer Kontrolle haben. Während wir uns für den Krieg aufopfern, erkennen wir nicht, dass die Vorteile von anderen abgeschöpft werden – ebenso wie der Trinker, der die Füße eines anderen für seine eigenen hält, weil er vielleicht unbewusst die Wahrheit nicht erkennen will.
Können wir diese Falle vermeiden? Vom 20.-22. Juni 2023 hat die paneuropäische Organisation Europe, a Patient in London eine Diskussionsrunde veranstaltet. Dabei ging es um die Notwendigkeit, die ukrainischen Gemeinschaften nach dem Krieg vor wirtschaftlicher Ausbeutung zu schützen. Solche Initiativen sind nötiger als je zuvor, da die Unterstützung für die ukrainische Verteidigung im Einklang mit Themen der Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit stehen muss. Auch diese Themen sind für die Zukunft des Landes wichtig. Beispielsweise können wir die Ukraine erst dann vollständig unterstützen, wenn wir sie auch aus dem Klammergriff der fossilen Energiekonzerne befreien, die von russischem Öl abhängen.
Wie stark militärische, ökologische und sozioökonomische Bemühungen miteinander verknüpft sind, lässt sich kaum noch ignorieren. Spätestens die Zerstörung des Kachowka-Staudamms bei Cherson Anfang Juni hat die dramatische Verbindung von Kriegs- und Umweltthemen verdeutlicht.
Aber nicht nur die Ukraine leidet unter Umweltproblemen: Etwa gleichzeitig haben kanadische Waldbrände die US-Metropole New York City in braunen Rauch gehüllt und den Bewohnern der Stadt einen Geschmack dessen gegeben, was die Menschen des Globalen Südens nur zu gut kennen. Obwohl sich die reichen Länder des Westens pro forma zum Kampf gegen die Klimakrise und den ökologischen Zusammenbruch verpflichtet haben, tun sie weiterhin kaum etwas dagegen.
At a time when democracy is under threat, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided. Subscribe now and save $50 on a new subscription.
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Diese engstirnige Perspektive beschränkt sich nicht nur auf die Konzerne und die politische Rechte: Auch viele Linke behaupten heute, den Frieden zu unterstützen, während sie sich gleichzeitig mit brutalen und revisionistischen autoritären Regimes einlassen.
Um diese „pazifistische“ Opposition zu verstehen, können wir uns in die Lage zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zurückversetzen: Auch damals gab es eine Rechts-Links-Koalition, die sich gegen die Beteiligung der USA an Kriegen im Ausland eingesetzt hat. Damals wie heute argumentierten die „Pazifisten“, die Lage in Europa gehe Amerika nichts an. Sie hegten merkwürdige Sympathien für den Aggressor, und sie behaupteten, in den Krieg einzutreten würde lediglich den militärisch-industriellen Komplex bereichern. Als Nazideutschland Großbritannien im Sommer 1940 erklärte, es wolle Frieden, dachten sie, die Briten hätten Hitlers großzügiges Angebot annehmen sollen.
Wie alle guten Lügen enthält auch diese ein Körnchen Wahrheit. Der konservative US-Kommentator Patrick J. Buchanan argumentierte 2008 ähnlich, indem er behauptete, wenn Winston Churchill 1940 Hitlers Angebot angenommen hätte, wäre der Holocaust weniger schlimm gewesen.
Außerdem glaubte Buchanan, genau wie Churchill durch unnötige Kriege gegen Deutschland das britische Königreich ruiniert habe, habe auch US-Präsident George W. Bush die Vereinigten Staaten dadurch ruiniert, dass er Churchills Beispiel gefolgt sei. Wie viele Linke ist er nicht damit einverstanden, dass die USA Ländern, in denen sie keine wichtigen Interessen haben, Garantien geben.
Hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine hört man oft eine neue Variation dieses Themas. Angeblich hatte die Auflösung der Sowjetunion denselben Effekt wie der Vertrag von Versailles: Beide hätten zu einem vorhersehbaren Wunsch nach Rache gegen die Sieger des letzten Krieges geführt.
Wie damals beruht dieses neue Rechts-Links-Bündnis auf Verschwörungstheorien – wie jenen über Impfstoffe, die von Robert Kennedy Jr. und den Anhängern von Donald Trump vertreten werden. Sie prangern Maßnahmen gegen COVID als Kontrollinstrumente an. Sie lehnen die Hilfe für die Ukraine ab, da diese lediglich dem militärisch-industriellen Komplex der NATO zugute komme. Und als Gipfel der Leugnung tun sie die größten Bedrohungen, vor denen wir heute stehen, als Tricks der Großkonzerne zur Ausbeutung der Arbeiterklasse ab.
Diese Politik der Leugnung – die nur vier Beine sieht – ist natürlich übermäßig optimistisch. Sie impliziert, dass wir uns um neue Gefahren nicht kümmern müssen. Vielmehr können wir einfach so weiter machen, als würden sie nicht existieren. Sie ist ein Produkt des Populismus von sowohl linker als auch rechter Seite, und sie ist einer der Hauptgründe dafür, warum wir uns heute in einem „politischen Niedergang“ befinden. Wie Grace Blakely von der Tribunebeobachtet: „Trotz der liberalen Prognose, die Verbreitung freier Märkte würde zu mehr Demokratie führen, ist der Autoritarismus auf dem Vormarsch – und zwar deshalb, weil der Kapitalismus immer soziale Hierarchien gegen die Bedrohung durch wirtschaftliche Gleichheit verteidigen wird.“
Diese Behauptung kann man noch weiter führen: Ebenso wird die Demokratie durch den falschen populistischen Widerstand gegen den Konzernkapitalismus gefährdet – beispielsweise den Widerstand der „pazifistischen“ Linken gegen die Unterstützung für die Ukraine, da davon „nur“ die Rüstungsindustrie profitieren würde. Immerhin ist die Ukraine schon vor langer Zeit von westlichen Konzernen kolonialisiert worden, und nur durch einen „grünen“ und fairen Wiederaufbau kann sie jemals befreit werden.
Um dieses Dilemma zu lösen, können wir uns nicht nur auf die liberale Mehrparteien-Demokratie verlassen. Stattdessen müssen wir neue Wege finden, um sozialen Konsens und aktive Verbindungen zwischen politischen Parteien und der Zivilgesellschaft zu schaffen. Die erste Aufgabe besteht darin, gegen die neuen Links-Rechts-Populisten Widerstand zu leisten, und dazu müssen wir vielleicht sogar mit Vertretern der kapitalistischen, liberalen Demokratie gemeinsame Sache machen – genauso wie die Kommunisten im Zweiten Weltkrieg zusammen mit den „imperialistischen“ westlichen Demokratien gegen den Faschismus gekämpft haben (im vollen Bewusstsein, dass der Imperialismus ihr größter Feind war). Dies waren seltsame Bettgefährten, aber wenigstens konnten sie sehen, was tatsächlich geschah.
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At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
ask Project Syndicate contributors to select the books that resonated with them the most over the past year.
LJUBLJANA – Die Frau eines Trinkers liegt mit ihrem Liebhaber im Bett, als ihr Ehemann unerwartet hereinkommt und sich unter die Bettdecke legt. „Liebling, ich bin so betrunken, dass ich am Ende des Betts sechs Beine sehe“, sagt er. „Keine Sorge“, antwortet sie, „Geh einfach rüber zur Tür und schau nochmal von dort“. Dies tut er und meint erleichtert: „Du hast Recht, es sind nur vier Beine!“
Dieser Witz mag vulgär sein, aber er beschreibt ein wichtiges Phänomen: Meist glaubt man, eine Situation von außen klarer überblicken zu können, als wenn man direkt beteiligt ist. Aber manchmal ist es genau diese außenstehende Position, die einen für die Wahrheit blind macht. In dem Witz bekommt der Ehemann (der bei der Tür steht) aus der Entfernung den falschen Eindruck, beteiligt zu sein, und deshalb hält er die Beine des Liebhabers für seine eigenen.
Eine ähnliche Dynamik findet man hinsichtlich der westlichen Unterstützung für die Ukraine. Wir ignorieren die Tatsache, dass die größten Gewinner des ukrainischen Kampfes wahrscheinlich ein paar dortige Oligarchen sein werden. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn die Nachkriegsukraine der Vorkriegsukraine ähneln wird – einem Land, das durch eine Oligarchie korrumpiert und von großen westlichen Konzernen kolonialisiert ist, die die besten räumlichen und natürlichen Ressourcen unter ihrer Kontrolle haben. Während wir uns für den Krieg aufopfern, erkennen wir nicht, dass die Vorteile von anderen abgeschöpft werden – ebenso wie der Trinker, der die Füße eines anderen für seine eigenen hält, weil er vielleicht unbewusst die Wahrheit nicht erkennen will.
Können wir diese Falle vermeiden? Vom 20.-22. Juni 2023 hat die paneuropäische Organisation Europe, a Patient in London eine Diskussionsrunde veranstaltet. Dabei ging es um die Notwendigkeit, die ukrainischen Gemeinschaften nach dem Krieg vor wirtschaftlicher Ausbeutung zu schützen. Solche Initiativen sind nötiger als je zuvor, da die Unterstützung für die ukrainische Verteidigung im Einklang mit Themen der Ökologie und der sozialen Gerechtigkeit stehen muss. Auch diese Themen sind für die Zukunft des Landes wichtig. Beispielsweise können wir die Ukraine erst dann vollständig unterstützen, wenn wir sie auch aus dem Klammergriff der fossilen Energiekonzerne befreien, die von russischem Öl abhängen.
Wie stark militärische, ökologische und sozioökonomische Bemühungen miteinander verknüpft sind, lässt sich kaum noch ignorieren. Spätestens die Zerstörung des Kachowka-Staudamms bei Cherson Anfang Juni hat die dramatische Verbindung von Kriegs- und Umweltthemen verdeutlicht.
Aber nicht nur die Ukraine leidet unter Umweltproblemen: Etwa gleichzeitig haben kanadische Waldbrände die US-Metropole New York City in braunen Rauch gehüllt und den Bewohnern der Stadt einen Geschmack dessen gegeben, was die Menschen des Globalen Südens nur zu gut kennen. Obwohl sich die reichen Länder des Westens pro forma zum Kampf gegen die Klimakrise und den ökologischen Zusammenbruch verpflichtet haben, tun sie weiterhin kaum etwas dagegen.
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Um diese „pazifistische“ Opposition zu verstehen, können wir uns in die Lage zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zurückversetzen: Auch damals gab es eine Rechts-Links-Koalition, die sich gegen die Beteiligung der USA an Kriegen im Ausland eingesetzt hat. Damals wie heute argumentierten die „Pazifisten“, die Lage in Europa gehe Amerika nichts an. Sie hegten merkwürdige Sympathien für den Aggressor, und sie behaupteten, in den Krieg einzutreten würde lediglich den militärisch-industriellen Komplex bereichern. Als Nazideutschland Großbritannien im Sommer 1940 erklärte, es wolle Frieden, dachten sie, die Briten hätten Hitlers großzügiges Angebot annehmen sollen.
Wie alle guten Lügen enthält auch diese ein Körnchen Wahrheit. Der konservative US-Kommentator Patrick J. Buchanan argumentierte 2008 ähnlich, indem er behauptete, wenn Winston Churchill 1940 Hitlers Angebot angenommen hätte, wäre der Holocaust weniger schlimm gewesen.
Außerdem glaubte Buchanan, genau wie Churchill durch unnötige Kriege gegen Deutschland das britische Königreich ruiniert habe, habe auch US-Präsident George W. Bush die Vereinigten Staaten dadurch ruiniert, dass er Churchills Beispiel gefolgt sei. Wie viele Linke ist er nicht damit einverstanden, dass die USA Ländern, in denen sie keine wichtigen Interessen haben, Garantien geben.
Hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine hört man oft eine neue Variation dieses Themas. Angeblich hatte die Auflösung der Sowjetunion denselben Effekt wie der Vertrag von Versailles: Beide hätten zu einem vorhersehbaren Wunsch nach Rache gegen die Sieger des letzten Krieges geführt.
Wie damals beruht dieses neue Rechts-Links-Bündnis auf Verschwörungstheorien – wie jenen über Impfstoffe, die von Robert Kennedy Jr. und den Anhängern von Donald Trump vertreten werden. Sie prangern Maßnahmen gegen COVID als Kontrollinstrumente an. Sie lehnen die Hilfe für die Ukraine ab, da diese lediglich dem militärisch-industriellen Komplex der NATO zugute komme. Und als Gipfel der Leugnung tun sie die größten Bedrohungen, vor denen wir heute stehen, als Tricks der Großkonzerne zur Ausbeutung der Arbeiterklasse ab.
Diese Politik der Leugnung – die nur vier Beine sieht – ist natürlich übermäßig optimistisch. Sie impliziert, dass wir uns um neue Gefahren nicht kümmern müssen. Vielmehr können wir einfach so weiter machen, als würden sie nicht existieren. Sie ist ein Produkt des Populismus von sowohl linker als auch rechter Seite, und sie ist einer der Hauptgründe dafür, warum wir uns heute in einem „politischen Niedergang“ befinden. Wie Grace Blakely von der Tribunebeobachtet: „Trotz der liberalen Prognose, die Verbreitung freier Märkte würde zu mehr Demokratie führen, ist der Autoritarismus auf dem Vormarsch – und zwar deshalb, weil der Kapitalismus immer soziale Hierarchien gegen die Bedrohung durch wirtschaftliche Gleichheit verteidigen wird.“
Diese Behauptung kann man noch weiter führen: Ebenso wird die Demokratie durch den falschen populistischen Widerstand gegen den Konzernkapitalismus gefährdet – beispielsweise den Widerstand der „pazifistischen“ Linken gegen die Unterstützung für die Ukraine, da davon „nur“ die Rüstungsindustrie profitieren würde. Immerhin ist die Ukraine schon vor langer Zeit von westlichen Konzernen kolonialisiert worden, und nur durch einen „grünen“ und fairen Wiederaufbau kann sie jemals befreit werden.
Um dieses Dilemma zu lösen, können wir uns nicht nur auf die liberale Mehrparteien-Demokratie verlassen. Stattdessen müssen wir neue Wege finden, um sozialen Konsens und aktive Verbindungen zwischen politischen Parteien und der Zivilgesellschaft zu schaffen. Die erste Aufgabe besteht darin, gegen die neuen Links-Rechts-Populisten Widerstand zu leisten, und dazu müssen wir vielleicht sogar mit Vertretern der kapitalistischen, liberalen Demokratie gemeinsame Sache machen – genauso wie die Kommunisten im Zweiten Weltkrieg zusammen mit den „imperialistischen“ westlichen Demokratien gegen den Faschismus gekämpft haben (im vollen Bewusstsein, dass der Imperialismus ihr größter Feind war). Dies waren seltsame Bettgefährten, aber wenigstens konnten sie sehen, was tatsächlich geschah.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff