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Ökonomische Kurzsichtigkeit gefährdet Italiens G7-Ambitionen

LONDON ‑ Vom 13. bis 15. Juni wird Italien Gastgeber des 50. G7-Gipfels in Fasano sein. Im Vorfeld des Treffens hat die Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni einen ehrgeizigen Entwicklungsplan mit Schwerpunkt Afrika angekündigt und hierzu die Staats- und Regierungschefs mehrerer afrikanischer Länder sowie der Afrikanischen Union eingeladen. Damit werden so viele Vertreter des afrikanischen Kontinents wie seit 2017 nicht mehr an einem G7-Gipfel teilnehmen.

Meloni hat auf dem Italien-Afrika-Gipfel Anfang des Jahres ihre Afrika-Initiative, den so genannten Mattei-Plan, vorgestellt. Der Plan zielt darauf ab, internationale Entwicklungspartnerschaften mit den Schwerpunkten Energie, Wachstum und Immigration aufzubauen.

Der Plan ist nach Enrico Mattei benannt, dem Gründer des italienischen Ölgiganten Eni. In den 1950er-Jahren brach Mattei das Monopol der großen Ölkonzerne, bekannt als die „sieben Schwestern“, indem er Entwicklungsländern günstigere Partnerschaftsabkommen anbot. Diese Abkommen erlaubten es den Entwicklungsländern oft, 75 % der Gewinne zu behalten, im Gegensatz zu den weniger fairen Bedingungen, die von den dominierenden Ölgiganten auferlegt wurden.

Mattei betrachtete staatliche Unternehmen auch als ein wesentliches Element nationaler Entwicklungsstrategien und sah persönliches Unternehmertum als eine öffentliche Pflicht an. Eni und andere staatliche Unternehmen spielten eine zentrale Rolle in der italienischen Industriepolitik und im Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Sie förderten kapitalintensive Rückwärtsverknüpfungen und legten den Grundstein für viele der heutigen Industrien des Landes.

Ironischerweise ist Eni nun Teil von Melonis 20 Milliarden Euro (21 Mrd. US-Dollar) schwerem Privatisierungsplan, der u. a. den Verkauf von Anteilen an staatlichen Unternehmen vorsieht, um die Staatsverschuldung zu reduzieren. Der Plan umfasst Berichten zufolge auch Finanzinstitute wie Poste und MPS und könnte sich auch auf wichtige öffentliche Dienstleistungen wie die staatliche Eisenbahngesellschaft Ferrovie dello Stato und die Flugsicherung ENAV erstrecken.

Melonis Privatisierungsprogramm ist eine fehlgeleitete Kombination aus überholten Theorien und gescheiterten Maßnahmen. Die ökonomische Begründung für den Abbau der Staatsverschuldung durch rigide Fiskalregeln basiert auf einer uninformierten und kurzfristigen Sicht der öffentlichen Finanzen, die die langfristigen makroökonomischen Auswirkungen von Zielgerichteten öffentlichen Investitionen außer Acht lässt, insbesondere deren Fähigkeit, privates Kapital zu verdrängen und das Wirtschaftswachstum zu stimulieren.

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Die Geschichte von Italiens Wirtschaft ist ein typisches Beispiel dafür. Sowohl die privaten als auch die öffentlichen Investitionen gingen zwischen 2009 und 2016 zurück und begannen erst wieder zu steigen, nachdem die öffentlichen Investitionen 2019 erhöht wurden. Eine kürzlich in 21 OECD-Ländern durchgeführte Studie bestätigt diese Ansicht und zeigt, dass höhere öffentliche Investitionen privates Kapital anziehen.

Die italienische Regierung rechtfertigte ihre Verkaufspläne damit, dass der Staat die Kontrolle über die meisten teilprivatisierten Unternehmen mit Ausnahme von MPS behalten würde und dass die Verringerung der staatlichen Anteile an Eni und Poste durch die jüngsten Aktienrückkäufe ausgeglichen würde. Diese kurzsichtige Politik verschärft jedoch die Finanzialisierung und führt zum Verlust direkter und indirekter Dividenden, die sich aus einer größeren staatlichen Beteiligung an profitablen Unternehmen ergeben könnten. Obwohl die Marktkapitalisierung im Verhältnis zum BIP in Italien niedriger ist als in den USA und Großbritannien, hat sie sich von rund 20 % im Zeitraum von 1960‑1990 auf durchschnittlich fast 40 % zwischen 1990 und 2020 verdoppelt.

Melonis Privatisierungsplan ist bezeichnend für Italiens Kurzsichtigkeit, Ziellosigkeit und das Fehlen einer ernsthaften Industriestrategie. Gut geführte staatliche Unternehmen können die wirtschaftliche Entwicklung ankurbeln und technologische Spillover-Effekte, sektorale Komplementaritäten sowie Größen- und Verbundvorteile schaffen.

Darüber hinaus können staatliche Unternehmen sowohl eigenständig als auch über ihre Lieferketten geduldiges Kapital bereitstellen und die technologischen Fähigkeiten eines Landes verbessern. Beispielsweise könnte die italienische Regierung das Know-how von Industria Italiana Autobus bei der Herstellung von Elektrobussen nutzen, um den dringenden Bedarf an nachhaltigem öffentlichem Nahverkehr zu decken. Dies würde ein umfangreiches öffentliches Beschaffungswesen nach sich ziehen und könnte Teil einer grünen Industriestrategie sein, die das Wirtschaftswachstum ankurbelt und gleichzeitig nationale Herausforderungen wie die starke Luftverschmutzung in der Po-Ebene angeht.

Sicherlich waren die italienischen Staatsunternehmen nicht immer die treibende Kraft für einen tiefgreifenden Wandel. Vielmehr spiegelt ihre historische Entwicklung die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes wider. So traft die Energiekrise der 1970er-Jahre die staatlichen Stahlproduzenten, als technologische Effizienzsteigerungen und Nachfrageverschiebungen zu einem massiven Stellenabbau führten. Da sich Entlassungen als politisch riskant erwiesen, führte ein intensiver Preiswettbewerb zu hohen Verlusten und Haushaltsdefiziten, so dass die staatliche Unterstützung zunahm. Dies wiederum führte zu einer übermäßigen Einmischung der Regierung und löste Forderungen nach Privatisierung aus.

In den 1990er-Jahren startete Italien das größte Privatisierungsprogramm in Kontinentaleuropa und zerschlug einen Großteil seines industriellen Rückgrats, anstatt Innovationen zu fördern. Während beispielsweise das Telekommunikationskonglomerat STET zwischen 1994 und 1996 2 % seiner Einnahmen für Forschung und Entwicklung ausgab, zeigen unsere Berechnungen, dass sein privatisierter Nachfolger, Telecom Italia, zwischen 2000 und 2002 etwa 0,4 % für F&E ausgab. Die halbstaatlichen Unternehmen, die überlebt haben, wie z. B. Eni, verfügten oft nicht über eine Zielorientierte, gesamtstaatliche Industriestrategie.

Diese Entwicklungen spiegeln die allgemeinen Herausforderungen wider, mit denen die italienische Wirtschaft konfrontiert ist: politische und unternehmerische Kurzsichtigkeit, Orientierungslosigkeit, unzureichende öffentliche und private Investitionen in FuE und unzureichende Humankapitalbildung. Die Arbeitsmarktreformen der 1990er- und 2000er-Jahre haben zu prekären Arbeitsbedingungen geführt, die langfristige Investitionen in Qualifikation und Ausbildung unattraktiv machen und die Produktivität verringern. Das Management italienischer Großunternehmen, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor, war besonders kurzsichtig, da Politiker und Manager wertvolle Kapazitäten abgebaut und einen Großteil der italienischen Spitzenindustrie an ausländische Unternehmen verkauft haben.

Melonis fehlerhafter Privatisierungsplan steht für einen breiteren globalen Trend. Obwohl der Internationale Währungsfonds erkannt hat, dass Sparmaßnahmen die Schuldenquote nicht senken und dem Wachstum schaden, halten europäische Politiker immer noch an veralteten Haushaltsregeln fest, die die Regierungen zwingen, Industrieanlagen zu verkaufen, um die Staatsverschuldung zu senken. Statt nachhaltige Industriestrategien zu fördern, bringt dieser Ansatz nur kurzfristige Erleichterung.

Durch die zunehmenden Aktienrückkäufe staatlicher Unternehmen hat die Finanzialisierung ein Rekordniveau erreicht, was häufig auf Kosten produktiver Investitionen geht. Während der Finanzsektor weiterhin hauptsächlich in sich selbst investiert, geben Nicht-Finanzunternehmen mehr für Aktienrückkäufe und Dividendenausschüttungen aus als für Humankapital, Ausrüstung und FuE.

Trotz Melonis Versuch, eine innovative Entwicklungsvision zu präsentieren, führt der Rückgriff ihrer Regierung auf veraltete Theorien zu einer gescheiterten Politik, die die Wirtschaftsagenda der G7 und die Partnerschaft mit Afrika gefährdet. Anstatt eine grünere und inklusivere Wirtschaft zu fördern, die von Investitionen und Innovation angetrieben wird, hat Meloni denselben kurzsichtigen Ansatz gewählt, der für viele der Probleme Italiens verantwortlich ist.

Trotz ihres Markenzeichens hat es die Regierung Meloni versäumt, Matteis Vermächtnis des öffentlichen Eigentums und der internationalen Zusammenarbeit gerecht zu werden. Um die wirtschaftlichen Herausforderungen Italiens zu meistern, müssen die politischen Entscheidungsträger ihren Worten Taten folgen lassen und sich für eine zukunftsorientierte Industriestrategie entscheiden.

Deutsch von Andreas Hubig

https://prosyn.org/eFdXz4Vde