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Rätsel der Geldpolitik

CAMBRIDGE – Ein bemerkenswertes Merkmal der Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit ist die Bändigung der Inflation in den USA und vielen anderen Ländern seit Mitte der 1980er Jahre. Davor lag die Inflationsrate in den USA (basierend auf dem Preisindex der privaten Konsumausgaben) während der 1970er Jahre im Schnitt bei 6,6% pro Jahr, und in den Jahren 1979 und 1980 überstieg sie 10%.

Anfang und Mitte der 1970er Jahre versuchten die Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford, die Inflation durch eine fehlgeleitete Kombination aus Preiskontrollen und Mahnrufen sowie eine moderate Straffung der Geldpolitik zu begrenzen. Dann jedoch kam Präsident Jimmy Carter, der – nachdem er diesen Ansatz zunächst weiterverfolgt hatte – im August 1979 Paul Volcker zum Chef der US Federal Reserve (Fed) machte. Unter Volcker hob die Fed die kurzfristigen Nominalzinsen schnell immer weiter an, um die Inflation um jeden Preis zu senken.

Volcker hielt mit Unterstützung von Präsident Ronald Reagan trotz enormen politischen Widerstandes auch nach dem Januar 1981 an diesem Ansatz fest, und im Juli erreichte der Zinssatz für Tagesgelder mit 22% seinen Höchstwert. Die Politik funktionierte: Die jährliche Inflation fiel steil auf einen Durchschnittswert von lediglich 3,4% in den Jahren 1983 bis 1989. Die Fed hatte in extremer Form den später als Taylor-Prinzip (oder passender, Volcker-Prinzip) bezeichneten Grundsatz erfüllt, wonach der Zinssatz für Tagesgelder stärker steigt als die Inflationsrate.

Seit damals hat die Fed die Geldpolitik in erster Linie über die kurzfristigen Nominalzinsen gesteuert, insbesondere den Zinssatz für Tagesgelder. Als ihre Macht über die kurzfristigen Kreditkosten im Gefolge der Finanzkrise von 2008 eingeschränkt war – weil der Zinssatz für Tagesgelder sich der Nullgrenze näherte –, ergänzte die Fed ihr hauptsächliches geldpolitisches Instrument durch zielgerichtete Hinweise (die sogenannten Forward Guidances) und die quantitative Lockerung.

Nimmt man die US-Inflationsrate der vergangenen Jahrzehnte als Maßstab, so hat die Geldpolitik der Fed fantastisch funktioniert. Die jährliche Inflation liegt seit 2010 bei 1,5%, knapp unter dem häufig geäußerten Zielwert der Fed von 2%, und war dabei bemerkenswert stabil. Und doch ist unklar, wie dies erreicht wurde. Blieb die Inflation niedrig, weil alle glaubten, dass alles, was deutlich über dem Korridor von 1,5-2% läge, eine steile Anhebung des Zinssatzes für Tagesgelder auslösen würde?

Es gibt umfassende Forschungsarbeiten darüber, wie Veränderungen beim Zinssatz für Tagesgelder die Konjunktur beeinflussen. Ein Aufsatz von Emi Nakamura und Jón Steinsson aus dem Jahr 2018 im Quarterly Journal of Economics etwa stellt fest, dass eine kontraktive geldpolitische Erschütterung – ein unerwarteter Anstieg des Zinssatzes für Tagesgelder – die Renditen von Schatzanleihen über einen Zeithorizont von 3-5 Jahren erhöht, wobei die Wirkung nach zwei Jahren am stärksten ist. (Die Ergebnisse für expansive Erschütterungen fallen entsprechend aus.) Die meisten dieser Effekte gelten für die realen (inflationsbereinigten) Zinssätze und zeigen sich bei Indexbonds genauso wie bei herkömmlichen Schatzanleihen. Der Effekt einer kontraktiven Erschütterung auf die voraussichtliche Inflationsrate ist negativ, aber in der Größenordnung moderat, und stellt sich im Wesentlichen erst nach 3-5 Jahren ein.

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Obwohl unerwartete Erhöhungen des Zinssatzes für Tagesgelder traditionell als kontraktiv bezeichnet werden, stellen Nakamura und Steinsson fest, dass „Prognosen über das Wachstum der Produktionsleistung“ tatsächlich für das auf die unerwartete Zinserhöhung folgende Jahr ansteigen. Das heißt, eine Zinserhöhung kündigt ein höheres Wachstum an, und eine Zinssenkung ein niedrigeres. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Fed die Zinsen in der Regel dann erhöht, wenn sie Hinweise erhält, dass die Konjunktur stärker ist als erwartet, und dass sie die Zinsen senkt, wenn sie mutmaßt, dass die Konjunktur schwächer sei als gedacht.

Derselbe Aufsatz stellt fest, dass eine unerwartete Erhöhung des Zinssatzes auf Tagesgelder schlecht für den Aktienmarkt ist (und umgekehrt), was mit den Überzeugungen vieler Beobachter des Finanzsektors übereinstimmt, von US-Präsident Donald Trump gar nicht zu reden. Die Verfasser schätzen, dass eine unerwartete Zinssenkung von 50 Basispunkten den S&P 500 Index um etwa 5% steigen lässt, obwohl das prognostizierte reale BIP-Wachstum zurückgeht. Der wahrscheinliche Grund hierfür ist der Rückgang der erwarteten realen Renditen konkurrierender Finanzinstrumente, wie etwa Schatzanleihen, im Laufe der kommenden 3-5 Jahre. Dieser Abzinsungseffekt übersteigt den negativen Einfluss der für die Zukunft erwarteten niedrigen realen Erträge auf die Aktienkurse.

Doch das Rätsel bleibt: Wie kann die Fed die Inflation stetig bei 1,5-2% pro Jahr halten, indem sie sich auf ein Instrument stützt, dass nur schwache und zeitverzögerte Auswirkungen zu haben scheint. Vermutlich würde die Fed, falls die Inflation wesentlich über den Zielkorridor von 1,5-2% steigen würde, jene Art dramatischer Erhöhungen der kurzfristigen Zinsen einleiten, die Volcker in den frühen 1980er Jahren durchführte, und diese Änderungen hätten rasche, deutlich negative Auswirkungen auf die Inflation. In ähnlicher Weise würde die Fed, wenn die Inflation deutlich unter den Zielwert fiele und womöglich negativ würde, die Zinsen steil senken – oder, wenn sie die Nullgrenze erreichen, alternative expansive Maßnahmen nutzen –, und dies hätte rasche, deutlich positive Auswirkungen auf die Inflation. 

Laut dieser Sicht bedeutet die glaubwürdige Drohung extremer Reaktionen seitens der Fed, dass sie die Politik der Volcker-Ära nicht selbst wiederholen muss. Die Zinsänderungen hätten zwar seit damals bescheidene Verbindungen mit der Inflation, doch die hypothetische Möglichkeit sehr viel stärkerer Veränderungen habe sich ihre Wirkungsmacht bewahrt.

Ich bin offen gesagt nicht zufrieden mit dieser Erklärung. Das ist, als sage man, die Inflationsrate sei niedrig, weil sie eben niedrig sei. Und zweifellos ist es ein zentraler Faktor, dass tatsächliche und erwartete Inflation beide niedrig sind – beide sind eng miteinander verbundene Zwillinge. Doch legt dies nahe, dass die der heutigen niedrigen und stabilen tatsächlichen und erwarteten Inflation zugrundeliegende Geldpolitik weiter funktionieren dürfte, bis sie das auf einmal nicht mehr tut.

Dies weckt in mir den Wunsch, ich hätte ein besseres Verständnis der Geldpolitik und der Inflation. Und auch, dass die für die Geldpolitik zuständigen Personen über ein besseres Verständnis der Geldpolitik verfügen mögen als ich. Viele Leser würden ohne Zweifel sagen, dass mein zweiter Wunsch bereits gewährt wurde. Wir wollen hoffen, dass sie Recht haben.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/CrfaS7Ode