A brew master brews coffee in Bangalore MANJUNATH KIRAN/AFP/Getty Images

Indiens urbanes Erwachen

WASHINGTON, DC – Als in Großbritannien im 19. und 20. Jahrhundert weltweit erstmals eine großflächige Urbanisierung stattfand, wurde die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes dadurch grundlegend verändert. Indien steht heute vor einem ähnlichen Wandel, der aber hundertmal schneller geschieht. Bis 2030 wird die indische Stadtbevölkerung 600 Millionen Menschen umfassen, doppelt so viel wie die amerikanische.

Für Indien ist eine schnelle Urbanisierung vor allem wichtig, um die demografische Dividende durch die junge Bevölkerung des Landes voll ausschöpfen zu können. Da jedes Jahr 12 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt strömen, ist das Potenzial dieser Dividende enorm. Der zunehmende Urbanisierungsprozess sorgt durch Vernetzung, räumliche Nähe und Diversifizierung dafür, dass sich Wissen verbreitet, Innovationen stattfinden, die Produktivität wächst und die Beschäftigung zunimmt.

Neben all diesen Vorteilen bringt die schnelle Urbanisierung allerdings auch enorme Herausforderungen mit sich. Staus und Verschmutzung müssen bewältigt werden, und das Wachstum muss inklusiv sein und allen die gleichen Chancen bieten. Als Nachzügler der Urbanisierung profitiert Indien von technologischen Innovationen wie Digitaltechnik, sauberer Energie, neuartigen Baumaterialien und modernen Transportmitteln, die dem Land gegenüber seinen entwickelteren Partnern einen Vorsprung verschaffen können. Um diese Technologien aber wirklich nutzen zu können, werden effektive Maßnahmen benötigt, um die Städte – insbesondere in Hinsicht auf moderne Industrien – wettbewerbsfähiger zu machen.

Dies wiederum setzt voraus, dass Indien sich entscheidet, ob es sich spezialisieren oder diversifizieren will. Spezialisierung bedeutet, dass sich Branchen in einzelnen Städten konzentrieren, und Diversifizierung führt dazu, dass in jeder Stadt mehrere Industriezweige angesiedelt werden, deren Verteilung etwa dem nationalen Durchschnitt entspricht. Dies ist keine leichte Wahl: Die Diskussion, welcher Ansatz besser ist, reicht nun schon fast ein Jahrhundert zurück.

1991, also etwa zu der Zeit, als die wirtschaftliche Liberalisierung Indiens begann, neigten die Städte des Landes eher zur Spezialisierung. In den letzten Jahren fand allerdings ein bemerkenswerter Wandel hin zur Diversifizierung statt. Besonders schnell und gründlich war die Abkehr von der Spezialisierung in großen Ballungsgebieten wie Mumbai und Bangalore.

In traditionellen Industriebereichen ist die Spezialisierung meist viel höher als in modernen. Obwohl einige moderne Wirtschaftsbereiche – wie Bürobuchhaltung, Computertechnik, Radio-, Fernseh- und Kommunikationstechnologie – oft in spezialisierteren Gegenden angesiedelt sind, hängen etwa drei Viertel der indischen Regionen mit höherem Spezialisierungsniveau von traditionellen Industrien ab. Zu den 600 spezialisiertesten Regionen des Landes gehören Kavaratti (Wassertransport), Darjeeling (Papierprodukte), Panchkula (Bürobuchhaltung und Computertechnik) und Wokha (Holzprodukte).

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Obwohl Indiens Spezialisierungsniveau in den 1990ern viel höher war als das der Vereinigten Staaten, haben sich die beiden Länder mit der Zeit aneinander angenähert. Dies alles legt nahe, dass im Zuge des technologischen Fortschritts auch die Diversifizierung steigt – ein Trend, der die Urbanisierungsmuster in Indien zukünftig entscheidend prägen wird.

Dies sind gute Aussichten für den Arbeitsmarkt, da stärker diversifizierte Städte und Regionen häufig ein stärkeres Beschäftigungswachstum aufweisen. Auch Schlüsselansiedlungen moderner Dienstleistungen konnten seit dem Jahr 2000 ein überdurchschnittlich hohes Beschäftigungswachstum für sich verbuchen.

Und es gibt noch mehr gute Nachrichten: Die stärksten Beschäftigungszuwächse durch Diversifizierung finden im ländlichen Raum und bei kleinen Unternehmen statt, was erwarten lässt, dass Indiens Urbanisierung zu inklusivem Wachstum und Wohlstand führen kann. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass sich hohe Wachstumsraten, die die Armutsbekämpfung fördern, auf die ländlichen Gebiete bestimmter Bezirke konzentrieren.

Will Indien diese positiven Trends aber vollständig nutzen, muss das Land stärker in Infrastruktur investieren. Trotz einer Verlangsamung des Wachstums im Produktionssektor – ein Trend, der sich auch im Rest der Welt bemerkbar macht – hat sich die Urbanisierung in Indien beschleunigt, insbesondere in Regionen, die besseren Zugang zu Infrastruktur haben.

In der sich entwickelnden Welt mangelt es einer Milliarde Menschen an Elektrizität und Straßen, und über eine halbe Milliarde hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Für die Entwicklung ist es von entscheidender Bedeutung, diese Defizite zu bekämpfen – und Indien ist dabei keine Ausnahme. Der Zugang zu besserer Infrastruktur wird es Millionen Jungunternehmern, insbesondere Frauen, ermöglichen, vom urbanen Erwachen des Landes zu profitieren. Der Schlüssel zum Erfolg wird dabei sein, die öffentlichen Ausgaben effizienter zu gestalten und mehr private Investitionen nutzbar zu machen.

Für private Akteure ist dies sicherlich ein wirtschaftlicher Anreiz, ihr Geld in die Infrastruktur der Entwicklungsländer zu stecken. Immerhin gibt es in den Industrieländern, wo die Bevölkerungen rapide altern, oft ein Übermaß an Ersparnissen, die in hochrentable Investitionen fließen könnten. Die Länder mit niedrigerem Einkommen, jüngeren Bevölkerungen und hohem Infrastrukturbedarf bieten dazu eine Gelegenheit.

Momentan fließen allerdings nur weniger als 1% der 68 Billionen Dollar, die von Pensionsfonds, Lebensversicherungen und anderen verwaltet werden, in Infrastrukturprojekte. Und angesichts der geringen Risikobereitschaft der Investoren und der kleinen Investitionsvolumina der städtischen Projekte wird es den kommunalen Regierungen nicht leicht fallen, diesen Anteil zu erhöhen.

Aber es ist nicht unmöglich. Was nötig ist, ist eine visionäre Führung auf lokaler Ebene. Die Stadt- und Bezirksregierungen müssen Infrastrukturprojekte ausrufen, die das Unternehmertum fördern, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Städte erhöhen und durch die Stärkung der Verbindungen zwischen Stadt und Land die regionale Entwicklung verbessern. Ebenso müssen diese Regierungen ihr Land und andere Betriebsmittel besser nutzbar machen, den Nutzern Renditemöglichkeiten erschließen und die finanziellen Regulierungen ändern, um die Risikobereitschaft der Investoren zu steigern. Kommen dazu noch größere technische und finanzielle Kapazitäten, wird es viel leichter, die notwendigen privaten Mittel anzuziehen und Partnerschaften aufzubauen, die dem urbanen Wandel Indiens zugute kommen.

Um den Urbanisierungsprozess so zu gestalten, dass er inklusives und nachhaltiges Wachstum fördert, stehen Indien sämtliche Möglichkeiten offen. Das Land muss sie nur vernünftig nutzen.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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