LONDON – Mit Hilfe von KI erzeugte Bilder des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor Gericht oder im Gefängnis fluten in diesen Tagen das Internet. Diese Bilder sind zwar Fakes, eine internationale Strafjustiz aber wird gerade zur Realität. Am 17. März hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nach Jahren der Kontroversen und Krisen die Welt mit einer Anklage gegen Putin überrascht und Haftbefehl gegen den Kremlchef erlassen.
Der konkrete Vorwurf des IStGH, Putin sei für die rechtswidrige Entführung und Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich und habe damit gegen das Römische Status und die Genfer Konventionen verstoßen, bezieht sich nur auf einen kleinen Teil seiner Verbrechen. Putin und sein innerer Kreise sind moralisch, und vermutlich auch rechtlich, für zahllose Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verantwortlich. Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lobt, ist der Haftbefehl dennoch „eine historische Entscheidung“, nicht weil er eine Verhaftung oder ein Verfahren garantiert, sondern weil er einen Präzedenzfall schafft.
Obwohl Putin nicht der erste amtierende Staatschef ist, der vom IStGH angeklagt wird – diese zweifelhafte Ehre teilt er mit Despoten wie dem früheren Präsidenten des Sudan Omar al-Bashir und dem verstorbenen libysche Diktator Muammar al-Gaddafi – ist er sicher der bedeutendste. Schließlich sind der Sudan und Libyen, anders als Russland, keine ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Skeptiker bezeichnen den Haftbefehl als rein symbolisch und weisen darauf hin, dass viele Weltmächte wie die USA, China und Indien den Gründungsvertrag des IStGH nicht unterzeichnet oder ratifiziert haben. Auch Russland erkennt den Gerichtshof nicht an (der Kreml erklärte den Haftbefehl für „nichtig“), und die russische Verfassung verbietet die Auslieferung russischer Staatsbürger. Als Atommacht und einer der wichtigsten Lieferanten von Öl und Gas weltweit verfügt Russland über reichlich Instrumente, um diejenigen einzuschüchtern, die seinen Staatschef zur Rechenschaft ziehen wollen. Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew denkt bereits laut über Raketenangriffe auf den Sitz des IStGH in Den Haag nach.
Dennoch hat der Chefankläger des Gerichtshofs Karim Khan mit diesem Schritt zweifellos Neuland betreten und der schon lange geführten juristischen Debatte, ob internationales Recht tatsächlich echte Rechtswirkung hat, neue Impulse gegeben. Für die meisten Staaten gilt international letztlich das Recht des Stärkeren. Aus diesem Grund bezeichnete der Rechtsphilosoph John Austin, der im 19. Jahrhundert rechtspositivistische Standpunkte entwickelte, das Völkerrecht als „nicht im eigentlichen Sinne Recht“. Selbst weniger radikale Rechtsphilosophen wie H.L.A. Hart standen dem internationalen Recht skeptisch gegenüber und bezeichneten es nicht als „Rechtssystem“, sondern als „Regelwerk“.
Die hartnäckigen Zweifel an der Autorität des internationalen Rechts sind vor allem darauf zurückzuführen, dass es in der Regel weniger schwer wiegt als der Wille von Staaten. Im Fall der Anklage gegen Putin hat die Ukraine die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf seinem Hoheitsgebiet anerkannt. Indem der IStGH seine Gerichtsbarkeit auf Staatsbürger eines Nicht-Mitglieds ausgedehnt hat, macht er jedoch deutlich, dass seine Zuständigkeit nicht von dieser Einwilligung abhängt. Und indem er die gefährliche und scheinbar nicht auszurottende Idee widerlegt, Staatschefs seien vor Strafverfolgung geschützt, schlägt der IStGH eine weitere Kerbe in den Kern der staatlichen Souveränität.
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Die Anklage des IStGH erfolgt 13 Monate nach dem grundlosen Angriff Russlands auf die Ukraine und markiert einen wichtigen Wendepunkt sowohl in diesem Krieg als auch im internationalen Recht. Der Haftbefehl wurde erlassen, um auf Putins Verbrechen aufmerksam zu machen, die Wachsamkeit zu erhöhen und „künftige Verbrechen zu verhindern“. Er ist aber auch dazu gedacht, die moralische Phantasie der internationalen Gemeinschaft anzuregen. Außerdem besteht ein wichtiges Element der opferorientierten Justiz darin, die Verbrechen zu benennen, die gegen die ukrainische Bevölkerung begangen wurden und werden.
Die Untersuchung russischer Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof erfolgte auf Antrag von rund 40 seiner 123 Mitgliedstaaten und der Haftbefehl verpflichtet sämtliche Mitglieder, Putin zu verhaften und an den Gerichtshof zu überstellen, sobald er ihren Boden betritt. Dass dies tatsächlich geschieht, ist natürlich äußerst unwahrscheinlich. Allerdings zeigt der Fall von Slobodan Milošević, dem früheren jugoslawischen Präsidenten, der in der Untersuchungshaft des UN-Kriegsverbrechertribunals verstarb, dass das auch keine leere Drohung ist.
In der Zwischenzeit wird Putin international immer mehr zu Geächteten, der kaum noch einen Platz auf der Weltbühne findet. Sein Erscheinen auf dem BRICS-Gipfel in Südafrika im August oder dem G20-Gipfel in Indien im September würde seine Gastgeber vor ein mehr als peinliches diplomatisches Dilemma stellen. Der Haftbefehl zwingt die internationale Gemeinschaft, sich für eine Seite zu entscheiden (im Falle der Vereinigten Staaten, Deutschlands und Japans die des IStGH), und vermittelt anderen Staatschefs (ganz zu schweigen von Putins Freunden) eine deutliche Botschaft.
Damit bringt der Haftbefehl des IStGH der internationalen Gemeinschaft einen seltenen Moment der moralischen Klarheit. Unter anderem zeigt er dem Globalen Süden, dass seine Rechtsprechung nicht völlig einseitig ist – eine verständliche Sichtweise, wenn man bedenkt, dass sich der Gerichtshof bisher vor allem auf afrikanische Staatschefs konzentriert, die Kriegsverbrechen, die westliche Streitkräfte in Afghanistan und anderen Ländern mutmaßlich begangen haben, bisher jedoch wohlweislich ignoriert hat.
Ob die Strategie des IStGH erfolgreich sein wird, hängt jedoch davon ab, ob es dem Gerichtshof gelingt, diesen Imagegewinn zu verteidigen und dem von Putin propagierten Bild vom „Westen gegen den Rest der Welt“ etwas entgegenzusetzen. Um seine Legitimität zu untermauern, muss der IStGH echten Multilateralismus beweisen und, wie ich schon in früher Artikeln argumentiert habe, eine wahrhaft globale Rechtsprechung entwickeln. Das internationale Recht wird oft mit dem Wilden Westen verglichen, weil es bisher eben keinen globale Sheriff gibt. Aber ganz egal, ob Putin wirklich in Handschellen endet oder nicht, ist das „Fahndungsplakat“ des IStGH in jedem Fall ein Schritt in die richtige Richtung.
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At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
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LONDON – Mit Hilfe von KI erzeugte Bilder des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor Gericht oder im Gefängnis fluten in diesen Tagen das Internet. Diese Bilder sind zwar Fakes, eine internationale Strafjustiz aber wird gerade zur Realität. Am 17. März hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nach Jahren der Kontroversen und Krisen die Welt mit einer Anklage gegen Putin überrascht und Haftbefehl gegen den Kremlchef erlassen.
Der konkrete Vorwurf des IStGH, Putin sei für die rechtswidrige Entführung und Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland verantwortlich und habe damit gegen das Römische Status und die Genfer Konventionen verstoßen, bezieht sich nur auf einen kleinen Teil seiner Verbrechen. Putin und sein innerer Kreise sind moralisch, und vermutlich auch rechtlich, für zahllose Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verantwortlich. Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lobt, ist der Haftbefehl dennoch „eine historische Entscheidung“, nicht weil er eine Verhaftung oder ein Verfahren garantiert, sondern weil er einen Präzedenzfall schafft.
Obwohl Putin nicht der erste amtierende Staatschef ist, der vom IStGH angeklagt wird – diese zweifelhafte Ehre teilt er mit Despoten wie dem früheren Präsidenten des Sudan Omar al-Bashir und dem verstorbenen libysche Diktator Muammar al-Gaddafi – ist er sicher der bedeutendste. Schließlich sind der Sudan und Libyen, anders als Russland, keine ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Skeptiker bezeichnen den Haftbefehl als rein symbolisch und weisen darauf hin, dass viele Weltmächte wie die USA, China und Indien den Gründungsvertrag des IStGH nicht unterzeichnet oder ratifiziert haben. Auch Russland erkennt den Gerichtshof nicht an (der Kreml erklärte den Haftbefehl für „nichtig“), und die russische Verfassung verbietet die Auslieferung russischer Staatsbürger. Als Atommacht und einer der wichtigsten Lieferanten von Öl und Gas weltweit verfügt Russland über reichlich Instrumente, um diejenigen einzuschüchtern, die seinen Staatschef zur Rechenschaft ziehen wollen. Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew denkt bereits laut über Raketenangriffe auf den Sitz des IStGH in Den Haag nach.
Dennoch hat der Chefankläger des Gerichtshofs Karim Khan mit diesem Schritt zweifellos Neuland betreten und der schon lange geführten juristischen Debatte, ob internationales Recht tatsächlich echte Rechtswirkung hat, neue Impulse gegeben. Für die meisten Staaten gilt international letztlich das Recht des Stärkeren. Aus diesem Grund bezeichnete der Rechtsphilosoph John Austin, der im 19. Jahrhundert rechtspositivistische Standpunkte entwickelte, das Völkerrecht als „nicht im eigentlichen Sinne Recht“. Selbst weniger radikale Rechtsphilosophen wie H.L.A. Hart standen dem internationalen Recht skeptisch gegenüber und bezeichneten es nicht als „Rechtssystem“, sondern als „Regelwerk“.
Die hartnäckigen Zweifel an der Autorität des internationalen Rechts sind vor allem darauf zurückzuführen, dass es in der Regel weniger schwer wiegt als der Wille von Staaten. Im Fall der Anklage gegen Putin hat die Ukraine die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf seinem Hoheitsgebiet anerkannt. Indem der IStGH seine Gerichtsbarkeit auf Staatsbürger eines Nicht-Mitglieds ausgedehnt hat, macht er jedoch deutlich, dass seine Zuständigkeit nicht von dieser Einwilligung abhängt. Und indem er die gefährliche und scheinbar nicht auszurottende Idee widerlegt, Staatschefs seien vor Strafverfolgung geschützt, schlägt der IStGH eine weitere Kerbe in den Kern der staatlichen Souveränität.
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Die Untersuchung russischer Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof erfolgte auf Antrag von rund 40 seiner 123 Mitgliedstaaten und der Haftbefehl verpflichtet sämtliche Mitglieder, Putin zu verhaften und an den Gerichtshof zu überstellen, sobald er ihren Boden betritt. Dass dies tatsächlich geschieht, ist natürlich äußerst unwahrscheinlich. Allerdings zeigt der Fall von Slobodan Milošević, dem früheren jugoslawischen Präsidenten, der in der Untersuchungshaft des UN-Kriegsverbrechertribunals verstarb, dass das auch keine leere Drohung ist.
In der Zwischenzeit wird Putin international immer mehr zu Geächteten, der kaum noch einen Platz auf der Weltbühne findet. Sein Erscheinen auf dem BRICS-Gipfel in Südafrika im August oder dem G20-Gipfel in Indien im September würde seine Gastgeber vor ein mehr als peinliches diplomatisches Dilemma stellen. Der Haftbefehl zwingt die internationale Gemeinschaft, sich für eine Seite zu entscheiden (im Falle der Vereinigten Staaten, Deutschlands und Japans die des IStGH), und vermittelt anderen Staatschefs (ganz zu schweigen von Putins Freunden) eine deutliche Botschaft.
Damit bringt der Haftbefehl des IStGH der internationalen Gemeinschaft einen seltenen Moment der moralischen Klarheit. Unter anderem zeigt er dem Globalen Süden, dass seine Rechtsprechung nicht völlig einseitig ist – eine verständliche Sichtweise, wenn man bedenkt, dass sich der Gerichtshof bisher vor allem auf afrikanische Staatschefs konzentriert, die Kriegsverbrechen, die westliche Streitkräfte in Afghanistan und anderen Ländern mutmaßlich begangen haben, bisher jedoch wohlweislich ignoriert hat.
Ob die Strategie des IStGH erfolgreich sein wird, hängt jedoch davon ab, ob es dem Gerichtshof gelingt, diesen Imagegewinn zu verteidigen und dem von Putin propagierten Bild vom „Westen gegen den Rest der Welt“ etwas entgegenzusetzen. Um seine Legitimität zu untermauern, muss der IStGH echten Multilateralismus beweisen und, wie ich schon in früher Artikeln argumentiert habe, eine wahrhaft globale Rechtsprechung entwickeln. Das internationale Recht wird oft mit dem Wilden Westen verglichen, weil es bisher eben keinen globale Sheriff gibt. Aber ganz egal, ob Putin wirklich in Handschellen endet oder nicht, ist das „Fahndungsplakat“ des IStGH in jedem Fall ein Schritt in die richtige Richtung.