goldberg30_ Nikolas KokovlisNurPhoto via Getty Images_greece work week Nikolas Kokovlis/NurPhoto via Getty Images

Ist die griechische Sechstagewoche ein Vorbote?

ATHEN – Eine der glücklichsten Erinnerungen an meine Kindheit in Griechenland war die Ankündigung, dass die Schul- (und Arbeits-) Woche von sechs auf fünf Tage verkürzt wird. Da ich mich auch daran erinnere, wie begeistert meine Landsleute auf diese Neuerung reagierten, überraschte mich nun die Nachricht, dass die griechischen Arbeitgeber aufgrund eines neuen Gesetzes die Sechstagewoche in mehreren Sektoren wieder einführen dürfen.

Diese Änderung kommt aus mehreren Gründen überraschend. In erster Linie scheint sie dem allgemeinen Trend zur Förderung des Gleichgewichts zwischen beruflichen Verpflichtungen und Privatleben sowie zur Flexibilisierung der Arbeitsgestaltung zu widersprechen. Mehrere Regierungen in fortgeschrittenen Volkswirtschaften (in Belgien, Singapur und dem Vereinigten Königreich) haben kürzere Wochenarbeitszeiten angekündigt, und andere (Deutschland, Japan, Irland, Südafrika und Spanien) ziehen ähnliche Maßnahmen in Erwägung.

Zweitens sind die Griechen dafür bekannt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben zu schätzen, und sie arbeiten bereits mehr als andere Europäer. Im Durchschnitt verbringen die Erwerbstätigen in Griechenland 39,8 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz, während es in der gesamten Europäischen Union durchschnittlich nur 36,1 Stunden sind.

Drittens hat die derzeitige griechische Regierung - obwohl wirtschafts- und wachstumsfreundlich - bewiesen, dass sie sich für die Rechte und die Förderung von Frauen einsetzt, einer Gruppe, die von längeren, weniger flexiblen Arbeitszeiten wohl negativ betroffen sein wird. Dieselbe Regierung hat auch ihr Engagement für eine faktengestützte Politik unter Beweis gestellt und bisherige Erkenntnisse legen nahe, dass kürzere Wochenarbeitszeiten und ein ausgewogenerer Alltag zu höherer Mitarbeiterzufriedenheit, besserer Gesundheit und letztlich höherer Produktivität beitragen.

Wie erklärt sich also dieser unerwartete Politikwechsel? Die Regierung selbst bezeichnet den Schritt als „außergewöhnliche Maßnahme“, und das steht - wie wir alle wissen - beschönigend für eine „Politik des letzten Auswegs“. Wie zahlreiche andere Länder mit hohem Einkommen hat auch Griechenland mit einem akuten Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Auch wenn sich die Situation dort aufgrund der erheblichen Abwanderung von Arbeitskräften nach der Finanzkrise 2010 besonders schlimm präsentiert (schätzungsweise 500.000 Griechinnen und Griechen - 5 Prozent der derzeitigen Bevölkerung - haben das Land verlassen), steht man mit diesem Problem nicht alleine da.

Das Grundproblem besteht in der niedrigen Geburtenrate und einer alternden Bevölkerung - demografische Bedingungen, die die griechische Regierung zu Recht als „tickende Zeitbombe“ bezeichnet. In Verbindung mit den begründeten Forderungen nach höherer Lebensqualität und einem ausgewogenerem Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben aufgrund des zunehmenden Wohlstands führt eine geringere Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter zu einem Rückgang des Arbeitskräfteangebots.

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Wie sollten die fortgeschrittenen Volkswirtschaften dieses Problem bewältigen? Vier Möglichkeiten bieten sich an. Die erste besteht darin, die Automatisierung voranzutreiben, in der Annahme, dass Maschinen, Roboter und künstliche Intelligenz irgendwann die fehlenden Arbeitskräfte ersetzen könnten. Allerdings kann nicht jede Arbeit von einer Maschine oder einem großen Sprachmodell erledigt werden. Wir brauchen immer noch Menschen, um viele der unattraktivsten, gering qualifizierten Jobs im Baugewerbe oder in der Lebensmittelindustrie und im Gastgewerbe zu besetzen.

Die zweite Option besteht darin, die Entlohnung der Beschäftigten zu erhöhen. Die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft lehren uns, dass die Preise (in diesem Fall die Löhne) steigen, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Höhere Löhne führen jedoch letztlich zu höheren Verbraucherpreisen und das ist in der Regel unpopulär, insbesondere in einer Zeit, in der die Inflation ein Hauptthema ist. Und in einer kleinen offenen Volkswirtschaft wie Griechenland würden sich höhere Löhne und Preise nachteilig auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit auswirken.

Die dritte Möglichkeit wäre, von den Erwerbstätigen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften zu verlangen, mehr zu arbeiten, wie es Griechenland jetzt getan hat. Dieser Schritt scheint zwar dem allgemeinen Trend zu weniger Wochenarbeitsstunden zuwiderzulaufen, unterscheidet sich aber in Wirklichkeit nicht so sehr von der Anhebung des Renteneintrittsalters, wie sie mehrere andere Länder (Dänemark, Frankreich, Deutschland) für notwendig erachtet haben. In beiden Fällen erwiesen sich diese politischen Änderungen bei den Beschäftigten als höchst unpopulär, und in beiden Fällen haben die Menschen klar zum Ausdruck gebracht, lieber auf das höhere Einkommen verzichten zu wollen (im Falle Griechenlands ist der sechste Arbeitstag mit einem Lohnaufschlag von 40 Prozent verbunden), als mehr als bisher zu arbeiten.

Bleibt noch die vierte Option, nämlich die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots durch kontrollierte, legalisierte Einwanderung. In Regionen, die mit Flüchtlingskrisen und illegaler Einwanderung zu kämpfen haben (wie die meisten europäischen Länder und die Vereinigten Staaten), ließen sich mit einer wohl konzipierten Einwanderungspolitik zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Derzeit scheint eine derartige Politik jedoch nicht in Frage zu kommen. Angesichts geopolitischer Fragmentierung und der Sorge um die nationale Sicherheit schließen die Länder zunehmend ihre Grenzen und wenden sich nach innen.

Man wird einmal mehr daran erinnert, dass die Unterscheidung zwischen Ausland und Inland in einer global vernetzten Welt kaum noch sinnvoll ist. Probleme, die ihren Ursprung in anderen Teilen der Welt haben, wirken sich in erheblichem Maße auf innenpolitische Fragen und in diesem Fall auf die Arbeitsmärkte aus.

Natürlich gibt es noch eine fünfte Möglichkeit, nämlich dass die Menschen in den reicheren Ländern Konsum und Wachstum zurückschrauben und von den Früchten der Arbeit leben, die sie zu leisten bereit sind. Das würde ihnen das angestrebte Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben ermöglichen und eine nachhaltige Zukunft sichern. Doch bisher sind nur wenige bereit, diesen Kompromiss einzugehen.

Die meisten Menschen wollen alles haben. Das ist aber nicht möglich. Um ihre derzeitige Lebensqualität zu erhalten, werden die Bürgerinnen und Bürger der Länder mit hohem Einkommen entweder ihre Grenzen für neue Zuwanderer öffnen oder mehr arbeiten müssen. Angesichts der aktuellen globalen Spannungen scheint das Pendel in Richtung mehr Arbeit auszuschlagen, sei es durch eine Anhebung des Rentenalters oder eine längere Arbeitswoche. Griechenland ist möglicherweise eher Trendsetter als Trendbrecher.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/tLLdtUjde