ST. PETERSBURG/SINGAPUR – Schon vor der Pandemie gab es Anzeichen für einen möglicherweise baldigen Anstieg der Nahrungsmittelpreise weltweit. Durch den Klimawandel ausgelöste Extremwetterereignisse sind häufiger geworden. Letztes Jahr fiel über ein Viertel der weltweiten Schweinepopulation der afrikanische Schweinepest zum Opfer, wodurch die Nahrungsmittelpreise in China heuer bis jetzt im Jahresvergleich um 15-22 Prozent angestiegen sind. Und vor kurzem hat die schlimmste Heuschreckenplage der letzten 70 Jahre die Ernten in Ostafrika zerstört. In Kenia ist der Preis für das Grundnahrungsmittel Mais seit 2019 um über 60 Prozent gestiegen.
Durch COVID-19 erhöht sich das Risiko eines weltweiten Anstiegs der Lebensmittelpreise, der in vielen Entwicklungsländern zu ausgesprochenen Krisen führen würde. In den ärmsten dieser Länder entfallen 40-60 Prozent des Warenkorbes auf Nahrungsmittel, wobei dieser Wert etwa 5-6 Mal höher als in den Industrieländern liegt.
Während die Lockdown-Maßnahmen zu einem Nachfrageeinbruch bei langlebigen Gütern und diskretionären Dienstleistungen geführt haben, gilt für Lebensmittel das Gegenteil. In Städten auf der ganzen Welt haben sich seit Beginn der Pandemie Berichte über Panikkäufe und das Horten von Lebensmitteln gehäuft.
Auf der Angebotsseite bestehen weltweit zwar ausreichend Vorräte an Getreide, diese könnten jedoch schnell erschöpft sein, wenn Produktion und Vertrieb von Nahrungsmitteln durch das Virus unterbrochen werden. Und aufgrund des Mangels an Tierfutter, Düngemitteln und Pestiziden erhöhten sich sowohl die Kosten für die Landwirtschaft als auch das Risiko schlechter Ernten.
Von der Obst- und Gemüseernte in Indien bis zum Betrieb von Fleischfabriken in Amerika tritt außerdem der Arbeitskräftemangel immer deutlicher zutage, da Reisebeschränkungen in großen Teilen der Welt den saisonalen Arbeitszyklus ausländischer Erntehelfer beeinträchtigen. Und Transportknappheiten erschweren die Beförderung der Produkte auf den Markt – sofern es einen gibt.
Landwirte müssen ihre Lieferketten neu konzipieren und sich von Großlieferungen an (derzeit geschlossene) Restaurants, Hotels und Schulen auf kleine Lebensmittelgeschäfte und Lieferungen zu den Kunden nach Hause verlegen. Das dauert allerdings seine Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil gewerbliche Lebensmittelprodukte anders zubereitet und verpackt werden als solche für private Verbraucher. In der Zwischenzeit mussten frisches Obst und Gemüse vernichtet werden.
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Darüber hinaus haben einige große Lebensmittel produzierende Länder als Reaktion auf die Pandemie bereits Exportverbote oder -quoten verhängt, wie etwa Russland und Kasachstan für Getreide und Indien und Vietnam für Reis. Unterdessen lagern andere Länder durch beschleunigte Importe Lebensmittel ein, wie dies auf den Philippinen (Reis) und in Ägypten (Weizen) der Fall ist.
Ein derartiger Lebensmittelprotektionismus erscheint vielleicht als praktikable Möglichkeit, Erleichterung für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu bieten, aber gleichzeitige Interventionen zahlreicher Staaten können zu einem weltweiten Anstieg der Lebensmittelpreise führen, wie das in den Jahren 2010-2011 der Fall war. Die Weltbank schätzt, dass etwa 40 Prozent des damaligen Anstiegs bei den weltweiten Preisen für Weizen und 25 Prozent des Preisanstiegs bei Mais auf derartigen Protektionismus zurückzuführen waren.
Man kann die Nervosität dieser Länder verstehen. Während die COVID-19-Pandemie in Industrie- und Schwellenländern gleichermaßen zu sinkendem Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit, einer Ausweitung der Haushaltsdefizite sowie einer in die Höhe schießenden Verschuldung führte, wird das Auftreten neuer Infektionsherde in Entwicklungsländern in noch stärkerem Maße zu Kosten-Nutzen-Abwägungen zwischen der Rettung von Leben und dem Schutz von Existenzgrundlagen führen. Außerdem sind die Entwicklungsländer ohnehin bereits mit einem abrupten Ende der Zuflüsse an Kapital und Auslandsüberweisungen sowie einem Zusammenbruch des Tourismus konfrontiert, während Handelskonditionen und Währungen der zahlreichen Öl- und Primärrohstoffexporteure unter diesen Ländern ebenfalls abstürzen. Schon vor COVID-19 bestand in vielen Ländern niedrigen Einkommens das ernsthafte Risiko einer Schuldenkrise. Und zahlreiche dieser Ökonomien sind auch durch Preissteigerungen für Nahrungsmittel höchst gefährdet.
Im Food Vulnerability Index von Nomura sind 110 Länder in der Reihenfolge ihrer Anfälligkeit für umfassende Schwankungen der Lebensmittelpreise aufgelistet, wobei das nominelle Pro-Kopf-BIP, der Anteil von Nahrungsmitteln am Verbrauch der Haushalte und die Netto-Lebensmittelimporte berücksichtigt werden. Die jüngste Rangliste zeigt, dass es sich bei den 50 Ländern, die durch anhaltende Nahrungsmittelpreisanstiege am stärksten gefährdet sind, beinahe samt und sonders um Entwicklungsländer handelt, in denen fast drei Fünftel der Weltbevölkerung leben.
Da die Nahrungsmittelpreise derzeit überall rückläufig sind, wäre ein starker Anstieg weltweit ein Problem. Selbst in entwickelten Volkswirtschaften würde ein Anstieg der Lebensmittelpreise einen noch größeren Keil zwischen Arm und Reich treiben und die bereits schwerwiegende Ungleichheit in punkto Wohlstand noch weiter verschärfen. Der jahrhundertealte Zusammenhang zwischen Lebensmittelkrisen und sozialen Unruhen sollte nicht außer Acht gelassen werden.
Multilaterale Institutionen haben während der Krise rasch mobilisiert, um einer Rekordzahl von Entwicklungsländern Notkredite zu gewähren, während die G20-Gläubigerländer einer vorübergehenden Aussetzung der Schuldendienstzahlungen armer Länder zugestimmt haben, die um Stundung gebeten hatten. Da allerdings die Risiken steigender Lebensmittelpreise nicht nur für die am stärksten gefährdeten Volkswirtschaften gelten, muss der vorübergehende Schuldenerlass möglicherweise auch auf andere Länder ausgedehnt werden.
Da die Pandemie noch weiteren wirtschaftlichen Schaden anzurichten droht, müssen die Länder zusammenarbeiten, um die Gefahren einer unterbrochenen Lebensmittelversorgung in Angriff zu nehmen. Im weiteren Sinne ist ein gewisses Maß an weltweiter politischer Koordinierung von entscheidender Bedeutung, um zu verhindern, dass Lebensmittelprotektionismus zur neuen Normalität nach der Pandemie wird.
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Over time, as American democracy has increasingly fallen short of delivering on its core promises, the Democratic Party has contributed to the problem by catering to a narrow, privileged elite. To restore its own prospects and America’s signature form of governance, it must return to its working-class roots.
is not surprised that so many voters ignored warnings about the threat Donald Trump poses to US institutions.
Enrique Krauze
considers the responsibility of the state to guarantee freedom, heralds the demise of Mexico’s democracy, highlights flaws in higher-education systems, and more.
ST. PETERSBURG/SINGAPUR – Schon vor der Pandemie gab es Anzeichen für einen möglicherweise baldigen Anstieg der Nahrungsmittelpreise weltweit. Durch den Klimawandel ausgelöste Extremwetterereignisse sind häufiger geworden. Letztes Jahr fiel über ein Viertel der weltweiten Schweinepopulation der afrikanische Schweinepest zum Opfer, wodurch die Nahrungsmittelpreise in China heuer bis jetzt im Jahresvergleich um 15-22 Prozent angestiegen sind. Und vor kurzem hat die schlimmste Heuschreckenplage der letzten 70 Jahre die Ernten in Ostafrika zerstört. In Kenia ist der Preis für das Grundnahrungsmittel Mais seit 2019 um über 60 Prozent gestiegen.
Durch COVID-19 erhöht sich das Risiko eines weltweiten Anstiegs der Lebensmittelpreise, der in vielen Entwicklungsländern zu ausgesprochenen Krisen führen würde. In den ärmsten dieser Länder entfallen 40-60 Prozent des Warenkorbes auf Nahrungsmittel, wobei dieser Wert etwa 5-6 Mal höher als in den Industrieländern liegt.
Während die Lockdown-Maßnahmen zu einem Nachfrageeinbruch bei langlebigen Gütern und diskretionären Dienstleistungen geführt haben, gilt für Lebensmittel das Gegenteil. In Städten auf der ganzen Welt haben sich seit Beginn der Pandemie Berichte über Panikkäufe und das Horten von Lebensmitteln gehäuft.
Auf der Angebotsseite bestehen weltweit zwar ausreichend Vorräte an Getreide, diese könnten jedoch schnell erschöpft sein, wenn Produktion und Vertrieb von Nahrungsmitteln durch das Virus unterbrochen werden. Und aufgrund des Mangels an Tierfutter, Düngemitteln und Pestiziden erhöhten sich sowohl die Kosten für die Landwirtschaft als auch das Risiko schlechter Ernten.
Von der Obst- und Gemüseernte in Indien bis zum Betrieb von Fleischfabriken in Amerika tritt außerdem der Arbeitskräftemangel immer deutlicher zutage, da Reisebeschränkungen in großen Teilen der Welt den saisonalen Arbeitszyklus ausländischer Erntehelfer beeinträchtigen. Und Transportknappheiten erschweren die Beförderung der Produkte auf den Markt – sofern es einen gibt.
Landwirte müssen ihre Lieferketten neu konzipieren und sich von Großlieferungen an (derzeit geschlossene) Restaurants, Hotels und Schulen auf kleine Lebensmittelgeschäfte und Lieferungen zu den Kunden nach Hause verlegen. Das dauert allerdings seine Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil gewerbliche Lebensmittelprodukte anders zubereitet und verpackt werden als solche für private Verbraucher. In der Zwischenzeit mussten frisches Obst und Gemüse vernichtet werden.
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Ein derartiger Lebensmittelprotektionismus erscheint vielleicht als praktikable Möglichkeit, Erleichterung für die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu bieten, aber gleichzeitige Interventionen zahlreicher Staaten können zu einem weltweiten Anstieg der Lebensmittelpreise führen, wie das in den Jahren 2010-2011 der Fall war. Die Weltbank schätzt, dass etwa 40 Prozent des damaligen Anstiegs bei den weltweiten Preisen für Weizen und 25 Prozent des Preisanstiegs bei Mais auf derartigen Protektionismus zurückzuführen waren.
Man kann die Nervosität dieser Länder verstehen. Während die COVID-19-Pandemie in Industrie- und Schwellenländern gleichermaßen zu sinkendem Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit, einer Ausweitung der Haushaltsdefizite sowie einer in die Höhe schießenden Verschuldung führte, wird das Auftreten neuer Infektionsherde in Entwicklungsländern in noch stärkerem Maße zu Kosten-Nutzen-Abwägungen zwischen der Rettung von Leben und dem Schutz von Existenzgrundlagen führen. Außerdem sind die Entwicklungsländer ohnehin bereits mit einem abrupten Ende der Zuflüsse an Kapital und Auslandsüberweisungen sowie einem Zusammenbruch des Tourismus konfrontiert, während Handelskonditionen und Währungen der zahlreichen Öl- und Primärrohstoffexporteure unter diesen Ländern ebenfalls abstürzen. Schon vor COVID-19 bestand in vielen Ländern niedrigen Einkommens das ernsthafte Risiko einer Schuldenkrise. Und zahlreiche dieser Ökonomien sind auch durch Preissteigerungen für Nahrungsmittel höchst gefährdet.
Im Food Vulnerability Index von Nomura sind 110 Länder in der Reihenfolge ihrer Anfälligkeit für umfassende Schwankungen der Lebensmittelpreise aufgelistet, wobei das nominelle Pro-Kopf-BIP, der Anteil von Nahrungsmitteln am Verbrauch der Haushalte und die Netto-Lebensmittelimporte berücksichtigt werden. Die jüngste Rangliste zeigt, dass es sich bei den 50 Ländern, die durch anhaltende Nahrungsmittelpreisanstiege am stärksten gefährdet sind, beinahe samt und sonders um Entwicklungsländer handelt, in denen fast drei Fünftel der Weltbevölkerung leben.
Da die Nahrungsmittelpreise derzeit überall rückläufig sind, wäre ein starker Anstieg weltweit ein Problem. Selbst in entwickelten Volkswirtschaften würde ein Anstieg der Lebensmittelpreise einen noch größeren Keil zwischen Arm und Reich treiben und die bereits schwerwiegende Ungleichheit in punkto Wohlstand noch weiter verschärfen. Der jahrhundertealte Zusammenhang zwischen Lebensmittelkrisen und sozialen Unruhen sollte nicht außer Acht gelassen werden.
Multilaterale Institutionen haben während der Krise rasch mobilisiert, um einer Rekordzahl von Entwicklungsländern Notkredite zu gewähren, während die G20-Gläubigerländer einer vorübergehenden Aussetzung der Schuldendienstzahlungen armer Länder zugestimmt haben, die um Stundung gebeten hatten. Da allerdings die Risiken steigender Lebensmittelpreise nicht nur für die am stärksten gefährdeten Volkswirtschaften gelten, muss der vorübergehende Schuldenerlass möglicherweise auch auf andere Länder ausgedehnt werden.
Da die Pandemie noch weiteren wirtschaftlichen Schaden anzurichten droht, müssen die Länder zusammenarbeiten, um die Gefahren einer unterbrochenen Lebensmittelversorgung in Angriff zu nehmen. Im weiteren Sinne ist ein gewisses Maß an weltweiter politischer Koordinierung von entscheidender Bedeutung, um zu verhindern, dass Lebensmittelprotektionismus zur neuen Normalität nach der Pandemie wird.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier