davies70_XinhuaLiu Jie via Getty Images_jerome powell Xinhua/Liu Jie via Getty Images

Vorhang auf für die geldpolitische Evolution

LONDON – Als US-Notenbank-Chef Jay Powell im vergangenen Monat auf der Notenbankkonferenz in Jackson Hole seine wichtige Rede hielt, in der er die Ergebnisse einer einjährigen Überprüfung der geldpolitischen Strategie der Fed darlegte, hatte er Sterne vor Augen. Nicht die funkelnde Sorte am Nachthimmel, sondern Sterne aus der Formelsprache der Ökonomen (*), die die Ansichten der Fed zu Zinssätzen und Arbeitslosigkeit auf den Punkt bringen.

Der „natürliche Zinssatz“, abgekürzt r*, beschreibt jenen Zins, bei dem sich der Gütermarkt im Gleichgewicht befindet und das Preisniveau stabil ist, während u* die „natürliche Arbeitslosenquote“ beschreibt. Beide „Sterne“ scheinen in den letzten Jahren gefallen zu sein, und anders als im alten US-Schlager besungen, hatte die Fed Schwierigkeiten, sie aufzufangen. Die Mitglieder des Federal Open Market Committee sind der Ansicht, dass seit 2012, als die Fed ihre politischen Ziele zuletzt neu formuliert hat, r* im Durchschnitt von 4,25% auf 2,5% gefallen ist, während u* Schätzungen zufolge im Mittel von 5,5% auf 4,1% gesunken ist.

Diese Rückgänge stehen im Zusammenhang mit dem, was Powell als „anhaltende Unterschreitung der Inflationsrate gegenüber unserem längerfristigen Ziel von 2%“ bezeichnet. Sie haben festgestellt, dass niedrigere Inflationserwartungen und niedrigere Zinssätze dazu geführt haben, dass sich die Fed über lange Zeiträume an der effektiven Untergrenze für Zinssätze befand, was, wenn nötig, eine geringere Flexibilität zur Stimulierung der Nachfrage impliziert. Eine Folge davon ist, dass die jährliche Inflation in den Vereinigten Staaten in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt nur 1,75% betrug und das Ziel 63% der Zeit unterschritten hat.

Die Konsequenz ist das, was Powells Vorgängerin, Janet Yellen, als „ziemlich subtile Strategieverlagerung“ bezeichnet, die aber im Laufe der Zeit entscheidend werden könnte. Powell hat ein neues Akronym erfunden – FAIT: ein französisches Wort, dem normalerweise „accompli“ folgt und das eine abgeschlossene Aufgabe bezeichnet. Das Akronym steht jedoch für Flexible Average (2%) Inflation Target, also Flexibles durchschnittliches (2%) Inflationsziel, dessen Verwirklichung einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

Die Idee ist, dass die Fed, wenn die erreichte Inflation unter 2% fällt, bereit sein sollte, ihr zu erlauben, über dieser Rate zu liegen, um verlorenen Boden wiederzugewinnen. Und bei der Beurteilung der Arbeitslosigkeit sollten die geldpolitischen Entscheidungsträger sich an „Zielunterschreitungen“ (shortfalls) und nicht an einer „Abweichung“ (deviation) der Beschäftigung von der Vollbeschäftigung orientieren. Das ist eine subtile Unterscheidung, aber sie bedeutet, dass die Fed die Beschäftigung eine Zeit lang über ihren Höchststand steigen lassen könnte, solange sich die Inflation nicht beschleunigt. In der Vergangenheit hätte die Fed die Zinsen präventiv erhöht.

Als Zeichen einer akkommodierenden Geldpolitik für die nächste Zeit ist Powells Rede im Allgemeinen positiv aufgenommen worden. Es ist verständlich, dass keine Begeisterung unter Bankern ausgebrochen ist, denn weiterhin niedrige Zinssätze sind nicht gut für die Gewinne. Aber eine Folge könnte eine steilere Ertragskurve sein, wenn die Inflationserwartungen steigen. Und die Banken könnten sich damit trösten, dass das Wort „Negativzinsen“ nicht gefallen ist, die zumindest in den USA nicht auf der Tagesordnung stehen.

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Unsicherheiten bleiben dennoch. Wie wird die Fed u* in Zukunft bemessen? Über welchen Zeitraum wird sie eine Zielunterschreitung der Inflation feststellen? Wenn das Preisniveau jetzt deutlich mehr als 3% unter dem liegt, wo es gewesen wäre, wenn das Ziel erreicht worden wäre, wäre dann eine Inflation von 5% für ein oder zwei Jahre akzeptabel? Die Antworten werden wir erst mit der Zeit erfahren.

Und welchen Einfluss wird dieser Strategieanpassung auf Zentralbanken anderswo haben?

Die Europäische Zentralbank befindet sich noch mitten in der Überprüfung ihrer eigenen geldpolitischen Strategie, die im Januar von ihrer neuen Präsidentin Christine Lagarde eingeleitet wurde. Die EZB hat noch mehr Grund als die Fed, Nabelschau zu betreiben: Die jährliche Inflationsrate ist noch stärker hinter dem 2%-Ziel zurückgeblieben. Das letzte Mal, dass die Inflation über 2% lag, war 2012, und seither verharrt sie auf einem niedrigen Niveau. Sollte die EZB also der Fed folgen?

Ein Problem ist, dass die EZB kein Doppelmandat wie die Fed hat. Sie ist angehalten, andere Wirtschaftspolitiken der Europäischen Union zu unterstützen, aber das ist der Wahrung der Preisstabilität eindeutig untergeordnet. Und die EZB muss sich auch um das deutsche Bundesverfassungsgericht sorgen. Den deutschen Richtern gefällt die quantitative Lockerung nicht, und sie sind weiterhin bereit, den Rechtsstreit um die EZB-Anleihekäufe fortzusetzen.

Eine grundlegende Überarbeitung würde die Regierungen einbeziehen und möglicherweise eine Vertragsänderung, was für die EZB gefährliches Terrain ist. Welche anderen Ziele könnten populistische Regierungen befürworten? Man kann auch behaupten, dass die Konjunkturschwäche der Eurozone eher auf schwache Konjunkturmaßnahmen zurückzuführen ist als auf politische Fehler der EZB, die unter Druck geraten wird, den Ansatz der Fed in Betracht zu ziehen, Verfehlungen aus der Vergangenheit wieder aufzuholen. Dies würde jedoch einen starken Anstieg der Preise bedeuten, wenn die politischen Entscheidungsträger wirklich den seit 2010 verlorenen Boden wieder gutmachen wollten. Ich erwarte bestenfalls bescheidene Veränderungen.

Und die Bank of England? Dort sind die Argumente für eine Kursänderung weniger schlagkräftig, da das durchschnittliche Inflationsziel mehr oder weniger erreicht wurde, wozu auch das fallende britische Pfund beitrug. Und eine Überprüfung des Mandats ist in Wirklichkeit eine Aufgabe für die Regierung, nicht für die BOE, da es die Regierung ist, die das Inflationsziel festlegt.

Unzufriedenes Murren gibt es trotzdem. Gordon Brown, der 1997 das ursprüngliche Ziel vorgegeben hatte, argumentierte unlängst, dass die Bank auch versuchen sollte, für ein Höchstmaß an Beschäftigung zu sorgen. Andere, die dem Kabinett von Premierminister Boris Johnson nahe stehen, wollen die BOE zügeln, indem sie ihre Entscheidungsfindung näher an die Regierung rücken, vielleicht indem sie ihr ein nominales BIP-Ziel vorgeben, bei dem Inflation und reales Wachstum vermischt werden, und indem sie eine „Koordinierung“ mit dem Finanzministerium erzwingen.

Powells „subtile Verlagerung“ ist also möglicherweise nicht das Ende vom Lied. Das Zentralbankwesen schien Mitte der 1990er-Jahre einen „Ende der Geschichte“-Moment erreicht zu haben, als sich das Ansteuern eines Inflationsziels (Inflation Targeting) nach seinem Erfolg in Neuseeland auf der ganzen Welt verbreitete. Eine Generation später hat die Geschichte erneut begonnen, mit unvorhersehbaren Folgen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

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