Von Mittelisrael nach Mittelpalästina

Haifa – Die Amerikaner sprechen von „Middle America“ und die Briten von „Middle England“. Beide befinden sich in der Nähe mythischer Orte, die angeblich den authentischen Charakter der Nation verkörpern. Auch Israel hat sein „Mittelisrael“, doch ist es ganz anders als die Gegenden, die die Amerikaner und die Briten beschreiben.

Mittelisrael ist überhaupt nicht provinziell, sondern gebildet, zwei- oder mehrsprachig und äußerst gut mit der weiten Welt verbunden. Es hat Israel den High-Tech-Erfolg beschert, über den sich das Land im letzten Jahrzehnt freuen konnte. Mittelisrael ist hauptsächlich säkular, obwohl in ihm auch gemäßigte Religiöse wohnen. Es ist liberal und verachtet jede Art von Fanatismus, ob orthodox oder nationalistisch. Es baut auf einem starken, rechtlich verankerten (wenn auch nie perfekten) Ethos der Geschlechtergleichberechtigung auf, der von Anfang an für den Zionismus typisch war.

Mittelisrael ist außerdem Schwulen-/Lesben-freundlich und überhaupt nicht fremdenfeindlich. Es ist zum größten Teil jüdisch, obwohl eine junge arabische professionelle Gesellschaftsschicht jetzt aus den Universitäten kommt und – unter Schwierigkeiten – ihren Weg in die Mitte der Zivilgesellschaft antritt. Außerdem, das sollten wir nicht vergessen, verdient Mittelisrael das Geld und bezahlt die Steuern, die ein breites Spektrum an Traditionalisten, Fundamentalisten, Chauvinisten und anderen Extremisten – jüdischen wie muslimischen – vom Gaza-Streifen bis nach Jerusalem und ins Westjordanland unterstützen.

Diese stille Mehrheit ist in der Knesset unterrepräsentiert, da ihre Mitglieder sich von politischen Karrieren fernhalten. Sie ist viel zu groß, um als Elite zu gelten. Sie ist nicht ausschließlich städtisch und umfasst Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft. Sie verfügt über eine starke gemeinsame Identität, gemeinsame Erinnerungen und eine vielfältige Kultur. Sie ist weder nach innen noch rückwärtsgewandt.

Einige Palästinenser hoffen, eines Tages zu so etwas wie Mittelisrael zu werden. Auch sie sähen es gerne, wenn Leben, Pragmatismus, Kreativität und sogar Freude die Oberhand gewinnen würden. Auch sie möchten, dass sich Mäßigung und Modernität durchsetzen, wenn auch vielleicht keine vollständige Säkularisierung. Diese Palästinenser sind die natürlichen Verbündeten Mittelisraels.

Manche mit mageren Medienberichten und einigen vagen Gerüchten aus Expertenkommissionen gefütterte europäische und amerikanische Freunde fragen mich oft, warum unsere Universitäten überfüllt sind mit sich selbst hassenden, antiisraelischen „Post-Zionisten“. Doch sind sie das gar nicht. Der Post-Zionismus ist ein stark übertriebenes Phantom, ein Begriff, der seine Blütezeit in der Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte, als es so schien, als würden israelische und palästinensische Politiker einen Friedensprozess aufbauen. Als Reaktion darauf entwickelten die Israelis schnell ihre eigene These vom „Ende der Geschichte“, die nahe legte, dass der Zionismus bald der Vergangenheit angehören würde, vor allem, weil keine Ideologie mehr gebraucht würde, um den geplanten normalen, modernen Staat zu unterstützen, der mit seinen Nachbarn in Frieden lebt und dessen Traumas der Vergangenheit angehören.

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Damals beschäftigten sich Historiker und Soziologen ausgiebig mit den angeblichen „Sünden“ des Zionismus – zum Beispiel, dass Israels arabische Bürger bis zum heutigen Tag niemals die gleichen Bürgerrechte genossen. Andere untersuchten die Verbrechen gegen die Palästinenser nach unserem Unabhängigkeitskrieg, den wir zur Selbstverteidigung kämpften. Viele Menschen bestritten diese Tatsachen; viele andere sahen ihnen ins Auge. Diejenigen unter uns, die keine Post-Zionisten, sondern liberale Zionisten waren, waren sogar stolz darauf, wie unsere Gesellschaft in diese Phase der Selbstprüfung und Selbstkritik eingetreten war.

Das größte Problem Mittelisraels ist das palästinensische Dilemma im besetzten Westjordanland und im blockierten Gaza-Streifen. Unsere Anführer, von Levy Eshkol (und noch mehr Golda Meir) bis zu Yitzhak Shamir, begingen einen schwerwiegenden Fehler, als sie nicht die erste Gelegenheit wahrnahmen, um eine territoriale Trennung und die Aussicht auf Souveränität für die Palästinenser nach 1967 zu schaffen. Sie begingen einen schwerwiegenden Fehler, als sie jüdischen Siedlern auf den biblischen Berghöhen freie Hand ließen, während Mittelisrael wegsah. Sie begingen einen schwerwiegenden Fehler – und das wird nicht so oft zugegeben –, als sie die moderate palästinensische Mittelschicht abschreckten, die größtenteils die besetzten Gebiete verlassen hat und eine Generation junger, ignoranter, hungriger und wütender Krieger hinterließ.

Doch gibt es eine Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt. Und zwar eine geografische: eine Aufteilung des Gebiets und eine Trennung der Heimatländer, die auf beiden Seiten schmerzliche, jedoch denkbare Kompromisse bedeutet. Jerusalem wird getrennt, die palästinensischen Flüchtlinge kehren nicht in die Heimat ihrer Vorfahren zurück und die jüdischen Siedlungen im Westjordanland werden genau wie ihre Pendants im Gaza-Streifen niedergerissen oder (was undenkbar ist) sich selbst überlassen.

Selbstverständlich werden die Extremisten diese Lösung hassen. Dagegen werden die Gemäßigten – alle Gemäßigten – sie akzeptieren, wenn auch mit Trauer.

Wenn die Gemäßigten gewinnen, wird ein „Mittelpalästina“ endlich in den Vordergrund treten. Diese Art Palästina wird Mittelisrael ähneln, obwohl es mit diesem am Anfang vielleicht keine Freundschaft schließen oder es besonders mögen wird. Außerdem wird es die beste Neuigkeit sein, die der Nahe Osten seit langer Zeit zu hören bekam.

Im Augenblick müssen wir in Mittelisrael unsere eigenen Extremisten im Zaum halten und darauf warten, dass die palästinensischen Gemäßigten sich durchsetzen.

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