fischer220_Sam TarlingGetty Images_marinelepen Sam Tarling/Getty Images

Europa und die USA - durch Wahlen in den Abgrund?

BERLIN – Zu Beginn des Novembers nähert sich der Präsidentschaftswahlkampf in den USA seiner Entscheidung. Dann wird die Welt wissen, ob sich die führende Macht der Welt von dieser Rolle durch die erneute Wahl eines isolationistischen Kandidaten abwenden wird oder ob Amerika an seiner führenden Rolle und an seinen bewährten Bündnissystemen wie der NATO festhalten wird. Trump oder Harris heißt diese Alternative.

Während die Welt gespannt auf den Ausgang dieses entscheidenden Wahlkampfes in den USA schaut, hat Europa schon gewählt. Vor allem in den beiden größten Mitgliedstaaten der EU, Schlüsselstaaten für die weitere Zukunft der EU im wahrsten Sinne des Wortes, waren die Wahlergebnisse deprimierend und endeten mit erheblichen Zugewinnen für die antiwestliche und antieuropäische extreme Rechte. Zwar ist dieser in beiden Ländern der ultimative Triumph einer Mehrheit verwehrt geblieben, aber ihre Zugewinne waren ganz erheblich. Vor allem wird es auf Dauer in beiden Ländern immer schwieriger, eine Mehrheitsbildung der demokratischen Mitte zu bewerkstelligen und so die extreme Rechte von der demokratischen Macht fernzuhalten.

In Frankreich Löste Präsident Macron nach seiner deprimierenden Niederlage bei den Europawahlen überraschend das nationale Parlament auf, nur um in Zukunft ohne eine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung regieren zu müssen. Zwar hatte das linksgrüne Bündnis die Wahlen gewonnen, aber ohne eine Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung zu erreichen. Macron lehnte die Zusammenarbeit auf Grund schwerwiegender politischer Differenzen ab, ebenso mit der extremen Rechten unter Marine Le Pen, sodass ihm nur die Nominierung eines Premierministers aus den Reihen der Gaullisten blieb, die allerdings im Parlament zu einer Minipartei geschrumpft waren. Ohne eine eigene Mehrheit und permanent von einem schnellen parlamentarischen Tod durch ein Misstrauensvotum bedroht, blieb Macron nichts anderes übrig, als dem Rassemblement National die Tür zu einer indirekten Regierungsbeteiligung zu öffnen durch dessen faktische Tolerierung der Regierung Barnier. In Deutschland droht Ähnliches.

Die Landtagswahlen in Ostdeutschland haben ebenfalls zu keinen Mehrheiten in der Mitte geführt, und wenn dort die rechtsextreme AfD nicht an den Regierungen beteiligt werden soll, wird dies nur unter dem Einschluss des erst jüngst entstandenen „Bündnis Sarah Wagenknecht“ möglich sein – einer Moskau und Putin treuen Partei, deren wichtigstes Ziel die Beendigung des Ukrainekriegs unter dem Schlagwort „Frieden“ zu Putins Bedingungen ist. Für die in einem Jahr stattfindenden nationalen Bundestagswahlen wäre dies ein schauriges Vorzeichen, denn sowohl in Frankreich als auch in Deutschland könnte dann auf Grund der absehbaren Schwäche der demokratischen Mitte Putin mit am Kabinettstisch sitzen.

Frankreich und Deutschland sind nicht Ungarn und die Slowakei. Sie sind Schlüsselstaaten für die weitere Entwicklung der Europäischen Union und zugleich die beiden größten und wirtschaftlich stärksten Mitglieder der EU. Wenn diese beiden auf Grund des Verlustes der Mehrheitsfähigkeit der Mitte auszufallen drohten, dann würde die Union in den Zeiten von Putins Eroberungskrieg in Stagnation und Handlungsunfähigkeit versinken. Ja, mehr noch, Europa würde sich in den Zeiten einer sich dramatisch verändernden Weltordnung hin zum Chaos der Rivalität großer Mächte abmelden.

Diese doppelte Bedrohung der demokratischen Ordnung Europas, sowohl durch den Nationalismus von innen als auch durch revisionistische Mächte von außen, zeichnet sich seit den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament und auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene in Frankreich und Deutschland als sehr konkrete Möglichkeit ab.

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Watch Now

Der Nationalismus ist heute überall in Europa zurück und hat mit dem EU-Austritt Großbritanniens erste praktische Ergebnisse gezeitigt, die gleichermaßen erschütternd sind, wie sie absehbar waren. Ein Europa, das aus ideologischen Gründen nicht nur praktisch, sondern vor allem auch mental an der Epoche der Nationalstaaten festhält und die weitere Integration der Union und die notwendige Zuwanderung trotz einer tiefen demographischen Krise verweigert, wird sich mit der Wahl neonationalistischer Parteien in der gerade anbrechenden Epoche der globalen Großmachtrivalität jedoch selbst erledigen, und Idee wie Realität eines geeinten, starken Europas gleich mit.

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