lair25_Majdi FathiNurPhoto via Getty Images_UNfoodaidcoronavirus Majdi Fathi/NurPhoto via Getty Images

Maßnahmen zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung während der Pandemie

LONDON/NAIROBI – Jährlich sterben etwa neun Millionen Menschen weltweit – die Bevölkerungszahl Österreichs – an Hunger oder hungerbedingten Erkrankungen. Das ist tragisch genug, doch die Destabilisierung der Lieferketten für Nahrungsmittel durch COVID-19 droht, diese Zahl 2020 zu verdoppeln.

Dies sind die versteckten Kosten der Coronapandemie, und sie werden die Ärmsten und Anfälligsten treffen. Um diese vermeidbaren Todesfälle zu verhindern, müssen wir zunächst einmal anerkennen, dass Afrika, Südasien und andere arme Regionen keinen „Lockdown“ umsetzen oder Bemühungen zur Eindämmung der Krankheit durch Nachahmung der im Westen umgesetzten Maßnahmen verfolgen können. Stattdessen müssen sie ihren eigenen Weg finden, um die vom Virus ausgehende Gefahr mit den aus Versuchen, das Virus zu besiegen, herrührenden Risiken für Leben und Lebensunterhalt der Menschen ins Gleichgewicht zu bringen.

Vor allem jedoch muss die internationale Gemeinschaft jetzt handeln, um die Lieferketten für Nahrungsmittel aufrechtzuerhalten. Andernfalls werden die unbeabsichtigten Folgen der Behandlung die ärmsten Teile der Welt schlimmer treffen als die Krankheit selbst.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WEP) hat 26 Länder ermittelt, die aufgrund der durch die COVID-19-Krise bedingten zunehmenden Ernährungsunsicherheit besonders bedroht sind. Zu den gefährdetsten Ländern in Afrika gehören Äthiopien, Nigeria und Mozambique. In diesen drei Ländern allein leiden laut WEP-Schätzungen schon heute 56 Millionen Menschen (von insgesamt etwa 334 Millionen) unter chronischer Ernährungsunsicherheit. Zudem sind von den 1,5 Milliarden Kindern weltweit, die derzeit pandemiebedingt nicht zur Schule gehen, 350 Millionen auf Schulspeisungen angewiesen, um nicht hungern zu müssen.

COVID-19 stellt die armen Länder bei der Nahrungsmittelversorgung vor vier wichtige Herausforderungen.

Zunächst einmal haben die privaten Haushalte geringere Einkommen, während zugleich die Nahrungsmittelpreise steigen. Die Wirtschaftsleistung Schwarzafrikas wird 2020 pandemiebedingt um mehr als 4% sinken, während die Geldsendungen im Ausland arbeitender Afrikaner derzeit steil fallen – bei einem Zahlungsanbieter in Großbritannien um 80%. Und eine Haushaltsumfrage in Bangladesch zeigt, dass die Armen dort schon jetzt Einkommensverluste von erschütternden 70% erlitten haben; fast die Hälfte von ihnen reduziert infolgedessen inzwischen ihren Nahrungsverbrauch.

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Zweitens ist der Nahrungsmitteltransport zeitaufwendiger und kostspieliger geworden. Die weltweiten Transportaktivitäten sind im ersten Quartal 2020 um 25% zurückgegangen. Zugleich haben sich die Kosten für den Warenversand über den Pazifik allein im März verdreifacht. Und neue Hygiene- und Abstandsmaßnahmen verzögern die Zollabfertigung und die Auslieferung.

Drittens stört die Pandemie die globale Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkten. Die Bauern in Indien wurden vom Indian Council of Agricultural Researchaufgefordert, ihre Weizenernte bis nach dem Lockdown aufzuschieben, während Länder wie Vietnam und Kambodscha ihre Reisexporte einschränken. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf Afrika, das jedes Jahr Reis im Wert von 4,5 Milliarden Dollar importiert.

Darüber hinaus werden Nahrungsmittel teurer, da die armen Länder Mühe haben, die Devisen zur Bezahlung für Importe aufzubringen. So sind etwa die Reispreise in Nigeria – u. a. wegen des steilen Rückgangs der Exporterlöse nach dem globalen Zusammenbruch der Ölpreise – in der letzten Märzwoche um 30% gestiegen.

Zugleich bestehen Inkongruenzen zwischen Angebot und Nachfrage. In Großbritannien drohen aufgrund der verringerten Nachfrage durch Restaurants jede Woche fünf Millionen Liter Milch weggeworfen zu werden. Doch hätte man diesen Überhang stattdessen zu Milchpulver verarbeiten und dorthin exportieren können, wo er gebraucht wurde.

Und schließlich beeinträchtigt COVID-19 die Landwirtschaft und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln auf den Märkten, weil Produktionsmaterialien knapp bleiben und lebenswichtige Agrochemikalien in den Häfen und beim Zoll festhängen. Die Weltbank schätzt, dass die landwirtschaftliche Produktion in Afrika 2020 je nach Umfang der Handelshemnisse um bis zu 7% zurückgehen könnte.

Angesichts dieser Herausforderungen sollten die Regierungen für Geldtransfers und Kanäle zur sicheren Verteilung von Lebensmitteln sorgen, um den Schutz gefährdeter Bürger sicherzustellen. Ganz wichtig ist dabei, dass sich die Politik auf die Beseitigung logistischer Nadelöhre in den nationalen und internationalen Wertschöpfungsketten konzentriert, damit Lebensmittel ungehindert innerhalb und zwischen Ländern bewegt werden können. Darüber hinaus steigern Investitionen jetzt in der Pflanzzeit die Übernahme technologischer Lösungen durch die betreffenden Länder und verringern ihre Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten.

Auf globaler Ebene sind vier Arten von Maßnahmen erforderlich.

Erstens muss die internationale Gemeinschaft die Finanzmittel für Nahrungsmittelhilfen und Maßnahmen zur sozialen Absicherung erhöhen. Diese Unterstützung muss schnell erfolgen, weil sonst mit Verbreitung der Hungersnot die letztlichen Kosten höher ausfallen und die Existenzfähigkeit der landwirtschaftlichen Systeme untergraben wird.

Die zweite Priorität sind Investitionen in die lokale landwirtschaftliche Produktion. Besonders in kritischen Zeiten während der Pflanzsaison, in denen die Verteilung von Produktionsgütern wie Dünger entscheidend ist, müssen Störungen der lokalen und regionalen Systeme zur Nahrungsmittelproduktion rasch entschärft werden. Andere Investitionen sollten darauf zielen, armen Ländern beim Aufbau von strategischen Nahrungsmittelreserven für drei Monate zu helfen, so wie es jüngst die Alliance for a Green Revolution in Africa (AGRA) empfohlen hat. Und die Stützung der Marktsysteme für den Anbau von Nahrungsmitteln und nachwachsenden Rohstoffen würde den armen Ländern helfen, widerstandsfähiger zu werden.

Drittens müssen wir die Störungen der globalen Lieferketten für Nahrungsmittel und Agrarerzeugnisse abmildern, indem wir regionale und lokale Logistikzentren unterstützen. Das WEP ist am besten aufgestellt, derartige Zentren zu koordinieren, und benötigt zu diesem Zweck sofort 350 Millionen Dollar. Das ist nicht besonders viel Geld, um sicherzustellen, dass Nahrungsmittel rasch dorthin gelangen, wo sie am dringendsten gebraucht werden.

Und schließlich müssen wir Anreize für den privaten Sektor schaffen, Unternehmen zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und Agtech-Firmen zu finanzieren. Die Ressourcen sollten rasch in Richtung von Anlagegelegenheiten gelenkt werden, die infolge der Pandemie zutage treten, insbesondere innovative Lösungen für die Wertschöpfungsketten. Zu den Prioritäten dabei gehören die Unterstützung von Plattformen für den elektronischen Handel und von elektronischen Märkten in den Entwicklungsländern – insbesondere in Afrika – und die Stützung der Lebensmittelverarbeitung.

COVID-19 hat sich bereits auf Geschäftsreisen, Arbeitsplatzgestaltung und vieles andere ausgewirkt. Auch für die Umgestaltung der Nahrungsmittelsysteme schafft die Pandemie eine Chance. Die neue Partnerschaft zwischen dem afrikanischen Online-Einzelhändler Jumia und Twiga, einem elektronischen Markt für örtliche Bauern, ist ein großartiges Beispiel dafür, was machbar ist.

Der Schutz der Lieferketten für Nahrungsmittel ist das lebenswichtige fehlende Element einer wirksamen COVID-19-Strategie. Während die Herausforderungen dabei enorm sind, lassen sie sich durch globale Partnerschaften insbesondere zwischen privatem Sektor, Regierungen, Entwicklungsbanken, NGOs und Landwirtschaftsorganisationen bewältigen. Doch müssen diese Lösungen rasch umgesetzt werden, wenn wir eine katastrophale Nahrungsmittelkrise in den Entwicklungsländern verhindern wollen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/mmC01xOde