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Der falsche Krieg für die Notenbanken

PEKING – Mit ihrer Fixierung auf Inflationsziele in einer inflationslosen Welt sind die Notenbanken vom Weg abgekommen. Angesichts in Nullnähe verharrender Leitzinsen hat sich die Geldpolitik von einem Mittel zur Gewährleistung der Preisstabilität zu einem Motor finanzieller Instabilität verwandelt. Wir brauchen dringend einen neuen Ansatz.

Die US Federal Reserve steht exemplarisch für dieses Dilemma der Notenbankpolitik. Nachdem der Offenmarktausschuss im September beschloss, die langerwartete Normalisierung der Geldpolitik einmal mehr hinauszuschieben, werben die „Inflationstauben“ im Ausschuss nun offen für eine weitere Verzögerung.

Inflationszielfetischisten scheint ihre Argumentation unangreifbar. Der US-Gesamtverbraucherpreisindex (CPI) steht in Nullnähe, und die „Kerninflation“ – der Lieblingsindikator der Fed – liegt weiter deutlich unter dem scheinbar sakrosankten Zielwert von 2%. Und angesichts der Tatsache, dass der schon lange blutleere Aufschwung erneut gefährdet scheint, gibt es laut den „Tauben“ keinen Grund, Zinserhöhungen zu forcieren.

Natürlich ist das nicht die ganze Geschichte. Weil die Geldpolitik mit Verzögerung wirkt, müssen die Notenbanken eine Fixierung auf das Hier und Jetzt vermeiden und sich stattdessen auf unvollkommene Prognosen stützen, um die künftigen Auswirkungen ihrer Entscheidungen zu antizipieren. Im Falle der Fed hat die Annahme, dass die USA sich in Kürze der Vollbeschäftigung nähern werden, den Zusammenbruch des sogenannten dualen Mandats auf nur noch ein Ziel bewirkt: die Inflation zurück auf 2% zu hieven.

Und an dieser Stelle macht die Fed einen fatalen Fehler, indem sie sich zu sehr auf eine veraltete Methode zur Inflationsvorhersage verlässt, welche die häufig stark schwankenden Preise von Waren wie Lebensmitteln und Energie beeinflussende „Sonderfaktoren“ ausfiltert. Dahinter steht die Überlegung, dass die Preisschwankungen irgendwann abklingen werden und die Gesamtpreisindikatoren sich dann der Kerninflationsrate annähern werden.

Dieser Ansatz hat bereits nach seiner Einführung in den 1970er Jahren spektakulär versagt und dazu geführt, dass die Fed die damals virulente Inflation unterschätzte. Und er versagt heute wieder, indem er die Fed dazu verleitet, die Kerninflation konsequent zu überschätzen. Tatsächlich beharrt die Fed trotz im letzten Jahr um 50% gefallener Ölpreise stur darauf, dass höhere Preissteigerungen – und die kostbare Inflationsrate von 2% – unmittelbar vor der Tür stehen.

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Was bei diesen Überlegungen fehlt, ist die Würdigung der neuen, machtvollen globalen Kräfte, die auf die Inflation drücken. Laut der neuesten Prognose des Internationalen Währungsfonds dürfte der Preisdeflator für alle hochentwickelten Volkswirtschaften bis 2020 im Schnitt um bloße 1,5% jährlich steigen – nicht viel mehr als das krisengebeutelte Tempo von 1,1% während der vergangenen sechs Jahre. Zudem verharren die Großhandelspreise weltweit überwiegend in einer regelrechten Deflation.

Doch statt die vermutlichen Triebkräfte dieser Entwicklungen anzuerkennen – nämlich das scheinbar chronische Defizit bei der globalen Gesamtnachfrage bei gleichzeitigem Überangebot und einer deflationär wirkenden Fülle technologischer Innovationen und neuer Lieferketten –, fährt die Fed fort, die deflationären Auswirkungen dieser globalen Kräfte herunterzuspielen. Sie würde die niedrige Inflation lieber auf eine erfolgreiche Verfolgung ihrer Inflationsziele und die dadurch vorgeblich ausgelöste „große Mäßigung“ zurückführen.

Diese selbstüberschätzerische Interpretation lief auf den Sirenenklang einer extrem lockeren Geldpolitik hinaus. Unfähig, die auf die Inflation drückenden globalen und nationalen Kräfte auseinanderzuhalten, hat sich die Fed bei der Verfolgung ihrer Inflationsziele konsequent zugunsten des lockeren Geldes vertan.

Dies ist daran erkennbar, dass die reale Federal Funds Rate – der inflationsbereinigte Leitzins der Fed – in den letzten 15 Jahren mehr als 60% der Zeit negativ war. Durchschnittlich lag sie seit Mai 2001 bei -0,6%. Zwischen 1990 und 2000 belief sich die reale Federal Funds Rate auf durchschnittlich 2,2%. Kurz gesagt: Während der letzten anderthalb Jahrzehnte hat die Fed bei der Festlegung ihres Leitzinses deutlich mehr als eine machtvolle Inflationsbekämpfung betrieben.

Die Folgen sind, gelinde gesagt, problematisch. Während dieses 15-Jahres-Zeitraums sind die Finanzmärkte aus den Fugen geraten, und eine Vielzahl von Vermögens- und Kreditblasen hat zu einer Reihe von Krisen geführt, die die Welt 2008/2009 beinahe in den Abgrund gerissen hätten. Doch statt auf die Exzesse im Vorfeld der Krise zu reagieren oder sie auch nur anzuerkennen, gibt sich die Fed diesbezüglich weiter agnostisch und verweist darauf, dass die Erkennung von Blasen bestenfalls eine unvollkommene Wissenschaft sei.

Dies ist nicht gerade ein überzeugender Grund für die Notenbanken, an ihrer Fixierung auf Inflationsziele festzuhalten. Nicht nur haben sie mit ihren Inflationsprognosen wiederholt falsch gelegen; jetzt riskieren sie, eine erneute Instabilität anzuheizen und eine weitere Krise auszulösen. Ganz wie in der Phase von 2003-2006 manche von uns vor einer sich anbahnenden Krise warnten, läuten heute einige – darunter die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der IWF vergeblich die Alarmglocken.

Sicher, Inflationsziele waren einst unverzichtbar, um die galoppierenden Preissteigerungen zu begrenzen. Aber in unserer heutigen inflationslosen Welt sind sie kontraproduktiv. Die Inflationszielbefürworter jedoch, die heute in den wichtigen Notenbanken das Sagen haben, beharren darauf, den Krieg von gestern zu kämpfen.

In diesem Sinne ähneln die modernen Notenbanker der britischen Armee in der Schlacht von Singapur 1942. Überzeugt, dass die Japaner vom Meer aus angreifen würden, verschanzten sich die britischen Verteidigungskräfte in undurchdringlichen Betonbunkern, deren fest montierte Geschütze nur nach Süden feuern konnten. Als dann die Japaner aus dem Dschungel und den Mangrovensümpfen der Malaiischen Halbinsel im Norden auftauchten, waren die Briten machtlos und konnten sie nicht aufhalten. Singapur fiel rasch; dies galt weithin als Premierminister Winston Churchills schmachvollste militärische Niederlage.

Wie damals die britische Armee in Singapur richten die Notenbanker ihre Waffen in die falsche Richtung. Es ist Zeit, dass sie ihr strategisches Arsenal gegen den Feind von heute wenden: die Finanzinstabilität. Auf dieser Basis waren die Argumente für eine Normalisierung der Geldpolitik noch nie überzeugender.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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