tubiana20_Thierry MonasseGetty Images_eucleanindustrialdeal Thierry Monasse/Getty Images

Erfordernisse für die europäische Sicherheit

PARIS – Noch nie war es so offensichtlich, dass Europa auf eigenen Beinen stehen muss. Doch während die Spitzen der europäischen Politik darüber debattieren, wie dies zu erreichen sei, dürfen sie sich nicht auf den trügerischen Zielkonflikt zwischen Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit einerseits und Klimazielen andererseits einlassen. Das würde einen der größten strategischen Vorteile Europas zunichte machen, nämlich seinen erheblichen Vorsprung beim Übergang zu einer CO2-armen Wirtschaft.

Bei diesem Vorteil handelt es sich nicht um einen Luxus für ruhigere Zeiten oder um eine Ablenkung vom Streben nach Sicherheit und wirtschaftlicher Resilienz. Schließlich ist Energie das zentrale Element der sicherheitspolitischen Herausforderung Europas. Die Abhängigkeit von russischem Gas erwies sich 2022 als kritische Schwachstelle und löste wirtschaftliche und politische Schocks aus, die immer noch nachwirken. Höhere Energiekosten haben die finanzielle Leistungsfähigkeit vieler EU-Mitgliedstaaten eingeschränkt – und damit ihre Möglichkeiten, mehr in die Verteidigung zu investieren.

In den drei Jahren seit dem Beginn der groß angelegten Invasion in der Ukraine durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin hat Europa erfolgreich Schritte unternommen, um sich von russischem Gas unabhängig zu machen. Flüssigerdgas (LNG) von anderen Lieferanten hat zwar kurzfristig für Entlastung gesorgt, bietet aber keine dauerhafte Energiesicherheit. Die kälteren Temperaturen in diesem Winter haben zu einem erneuten Anstieg der Gaspreise geführt, wodurch die anhaltende Anfälligkeit Europas deutlich wird. Investitionen in weitere LNG-Infrastruktur wird dieses Problem nicht lösen. Aufgrund von Kälteeinbrüchen, Versorgungsunterbrechungen und einer erhöhten Nachfrage aus anderen Regionen ist der LNG-Markt von Natur aus volatil.

Der einzige Weg zu echter Energiesicherheit führt über den Übergang zu einem sauberen, eigenen Energiesystem, das auf erneuerbaren Energien, Batterien und verwandten Technologien beruht. Ein derartiges System würde die Preise für Haushalte und Unternehmen stabilisieren und Europa gleichzeitig vor Druck von außen schützen.

Europa hat in dieser Hinsicht bereits Fortschritte erzielt. Im Jahr 2024 wurden in der Europäischen Union 47 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt. Damit übertrafen sie die fossilen Energieträger, die einen Anteil von 29 Prozent erreichten – den niedrigsten jemals verzeichneten Wert. Diese Dynamik gilt es beizubehalten. Keine energieintensive Branche – auch nicht KI – kann in Europa investieren und expandieren, wenn sie weiterhin der Volatilität fossiler Brennstoffe ausgeliefert ist.

Die Europäische Kommission konzentriert sich zu Recht auf die Stärkung einer sauberen industriellen Basis in Europa, soll heißen, auf die Entwicklung und Produktion von Materialien und Technologien, die sowohl die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit als auch die Dekarbonisierung vorantreiben werden. Die Arbeit der EU an einem Clean Industrial Deal bietet die Chance, Europa nicht nur als Teilnehmer, sondern als globalen Vorreiter in der Wirtschaft der Zukunft zu positionieren.

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Angesichts der Haushaltsbeschränkungen müssen neue Mittel jedoch sinnvoll eingesetzt werden. Das bedeutet, den Schwerpunkt auf aufstrebende saubere Technologien wie Batterien zu legen – ein Markt, der bis 2030 voraussichtlich um 30 Prozent jährlich wachsen wird. Während China mit seinen vertikal integrierten Batterie-Lieferketten und seinem hochentwickelten Know-how im Vorteil ist, verfügt Europa immer noch über die Chance, im Wettbewerb zu bestehen und eine starke Position zu etablieren. Tatsächlich ist Polen bereits der zweitgrößte Lithium-Ionen-Batterieproduzent der Welt.

Europas Strategie darf nicht im Widerspruch zu seinen Werten stehen. Der Clean Industrial Deal wird eine Bewährungsprobe für die EU sein, wenn es darum geht, dafür zu sorgen, keine Region und keine Bevölkerungsgruppe zurückzulassen. Die EU zeigt sich von ihrer besten Seite, wenn sie Mitgliedstaaten dabei unterstützt, den sozialen und regionalen Zusammenhalt zu stärken. Bei der Umsetzung wirtschaftlicher Integration, der Linderung der Nachteile im Zusammenhang mit der Globalisierung und der Förderung der regionalen Entwicklung durch Instrumente wie Kohäsionsfonds kann die Union auf eine solide Erfolgsbilanz zurückblicken. Jetzt müssen mutige sozial- und beschäftigungspolitische Maßnahmen (darunter Umschulungen) entwickelt werden, um in allen Regionen hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen – insbesondere in Regionen mit CO2-intensiven Industrien.

Hierfür ist eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich. Ein unkontrolliertes Nebeneinander staatlicher Beihilfen und industriepolitischer Maßnahmen würde die regionalen Unterschiede vertiefen. Im Letta-Bericht über den EU-Binnenmarkt vom letzten Jahr wurde vorgeschlagen, dass die Mitgliedstaaten einen festen Prozentsatz ihrer staatlichen Beihilfen in einen gemeinsamen Fonds einzahlen. Beiträge in Höhe von 5–15 Prozent könnten jährlich 8,5–51 Milliarden Euro generieren, von denen ein Teil für eine saubere Industrialisierung verwendet werden könnte.

Es wäre ein schwerwiegender Fehler, Europas Klimaziele im Namen der Wettbewerbsfähigkeit nach unten zu korrigieren. Unternehmen auf dem gesamten Kontinent wetteifern um einen Anteil am globalen Markt für saubere Technologien, der bis 2035 voraussichtlich ein Volumen von 2 Billionen US-Dollar übersteigen wird. Der Green Deal der EU ist nach wie vor von zentraler Bedeutung für diese Vision und bietet Unternehmen Sicherheit, da er einen wachsenden Markt für ihre Produkte garantiert.

Ein Kurswechsel zum jetzigen Zeitpunkt würde die Angelegenheit erheblich verkomplizieren, unzählige Geschäftsmodelle zum Scheitern bringen und Europa ins Hintertreffen geraten lassen. Daher haben einige europäische Unternehmen öffentlich davor gewarnt, einen Rückzieher zu machen. Viele weitere Firmen, darunter mehrere CEOs, mit denen ich gesprochen habe, äußern privat die gleichen Bedenken.

Der EU-Rahmen für nachhaltige Finanzen ist ein bedeutsamer Teil ihrer Strategie. Wie im Draghi-Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der EU vom letzten Jahr betont wurde, besteht das Problem Europas nicht in einem Mangel an Kapital, sondern in der ineffizienten Verteilung seiner reichlich vorhandenen Ersparnisse. Investoren benötigen hochwertige, zuverlässige und vergleichbare Finanzinformationen von Unternehmen, die auch Einblicke in Klimarisiken bieten. Der Rahmen für nachhaltige Finanzen mag aktuell nicht im Trend liegen, ist aber für die Bereitstellung dieser Informationen unerlässlich. Investorengruppen, die ein Vermögen von rund 6,6 Billionen Euro verwalten, warnten kürzlich, dass jede spürbare Abweichung von diesem Kurs den Zugang europäischer Unternehmen zu Finanzmitteln erschweren würde. Das hätte eine Schwächung tausender Unternehmen zur Folge, die eine kohlenstoffarme Wirtschaft planen und in diese investieren.

Die Stärkung der strategischen Autonomie Europas erfordert keine Isolation, sondern Interdependenz. Obwohl das EU-Gesetz über kritische Rohstoffe richtigerweise darauf abzielt, Abbau, Raffination und Recycling von Rohstoffen, die für einen ökologischen Wandel unerlässlich sind, im EU-Raum zu fördern, wird Europa weiterhin auf Importe angewiesen sein. Anstatt der Illusion einer vollständigen Selbstversorgung nachzujagen, sollte sich die EU auf die Vertiefung der Zusammenarbeit mit zuverlässigen internationalen Partnern konzentrieren.

Ungeachtet der Entwicklungen in den Vereinigten Staaten glauben viele Länder nach wie vor an die Zusammenarbeit bei gemeinsamen Herausforderungen. Wie Olivier Blanchard und Jean Pisani-Ferryargumentieren, ist die EU, die den Multilateralismus verkörpert, gut aufgestellt, um gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern eine wirksame kollektive Antwort auf den Klimawandel und die Energieunsicherheit zu organisieren.

Durch die Festlegung eines ehrgeizigen Emissionsreduktionsziels von 90 Prozent bis 2040 kann die EU mit gutem Beispiel vorangehen und neue Klimaabkommen mit Drittländern wie Japan, Brasilien, China und (möglicherweise) Indien aushandeln. Insbesondere China hat ein großes Interesse am Aufbau einer grünen Wirtschaft, nicht zuletzt, weil es Exportmärkte für seinen enormen Cleantech-Produktionssektor benötigt.

Die Führungsrolle Europas im Klimaschutz ist keine Bürde, sondern ein strategischer Vorteil. Eine Forcierung des grünen Übergangs wird dazu beitragen, Europas wirtschaftlichen Vorsprung zu sichern, die Energiesicherheit zu stärken und seine globale Position zu festigen. Die Entscheidung liegt auf der Hand: Wir können entweder selbstbewusst vorangehen oder riskieren, in einer Welt, die nicht auf uns wartet, ins Hintertreffen zu geraten.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/9mc0IfMde