fischer201_SAMEER AL-DOUMYAFP via Getty Images_ukrainewarprotest Sameer Al-Doumy/AFP via Getty Images

Ein Jahr danach - Europas Ordnung nach dem Ukrainekrieg

BERLIN – In etwas mehr als einem Monat, genauer am 24. Februar, jährt sich der brutale militärische Überfall Russlands auf seinen Nachbarn Ukraine zum ersten Mal. Was von Wladimir Putin als eine „militärische Spezialoperation, eine Art „Blitzkrieg“ geplant war, scheiterte am entschlossenen und kompetenten Widerstandswillen der ukrainischen Nation, an der geschlossenen Unterstützung durch den Westen und an der Inkompetenz des russischen Militärs und seiner Führung.

Aus der auf einen schnellen militärischen Sieg abzielenden „Spezialoperation“ ist mittlerweile ein verlustreicher Stellungskrieg geworden, von dem niemand auch nach einem Jahr seriös zu sagen weiß, wann und wie er denn enden wird. Die Annahme, dass sich dieser Krieg noch für eine längere Zeit hinziehen und zahlreiche weitere Opfer verlangen wird, ist jedoch sehr realistisch. Es fällt hingegen schwer zu glauben, dass Russland diesen Krieg noch gewinnen und sein zentrales Kriegsziel, nämlich die Zerstörung eines souveränen, unabhängigen ukrainischen Staates und dessen Eingliederung in den russischen Staat wird noch erreichen können.

Solange die NATO und ihre Mitgliedstaaten in ihrer militärischen und wirtschaftlichen Unterstützung der Ukraine festhalten und geschlossen bleiben und der Verteidigungswille der ukrainischen Nation ungebrochen anhält, solange wird Moskau seine Kriegsziele nicht erreichen können. Diese Einsicht scheint auch im Kreml gewachsen zu sein, denn man setzt dort offensichtlich zunehmend auf die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur und auf die schiere Masse, die numerische Überlegenheit der russischen Armee über die der Ukraine und damit auf eine langanhaltende Zermürbungs- und Erschöpfungsstrategie.

Diese Strategie läuft allerdings auf eine doppelte Zerstörung hinaus, auf die der Ukraine und auch die Russlands selbst. Wenn diese Strategie der „quantitativen Dominanz“ funktionieren soll, wird die russische Führung keinerlei Rücksicht auf das Leben der eigenen Soldaten nehmen dürfen, ganz zu schweigen von der ukrainischen Zivilbevölkerung. Dieser mutwillig begonnene Krieg im Osten Europas erweist sich mit jedem weiteren Tag als ein gewaltiges Verbrechen.

Am Ende dieses Krieges wird der Osten Europas zerstört sein und ein tiefgreifender und langandauernder Vertrauensverlust sich mit tiefer Feindschaft verbinden. Wenn die Waffen eines noch unbekannten Tages endlich schweigen werden, wird dort kein Frieden Einzug halten. Die Ukraine wird militärisch alles tun, um Russland vor einem erneuten Angriff militärisch abzuschrecken und das westliche Europa wird aus demselben Grund über Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte hinweg, gewaltig aufrüsten. Die Ukraine wird eine Art „Sicherheitsriegel“ zwischen Russland und dem westlichen Europa bilden und schon dieses Faktum macht ihren recht frühen Beitritt der Ukraine zu NATO und EU sehr wahrscheinlich.

Zudem werden ihre geopolitischen und Sicherheitsinteressen die EU in ihrem Kern verändern und durch die Zusage der perspektivischen Mitgliedschaft an die Ukraine ihren Schwerpunkt nach Osten und Südosten verschieben.

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Putin wollte mit seinem verbrecherischen Krieg die NATO auf Distanz halten. Er hat stattdessen das genaue Gegenteil mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens erreicht. Und in der weiteren Konsequenz des Krieges in der Ukraine wird sich der gesamte europäische Kontinent unter dem Schutzschirm der NATO versammeln. EU und NATO werden ein sehr viel engeres Verhältnis zueinander bekommen und das wird dem transatlantischen Raum ein völlig neues Gewicht geben, zumal die Welt von morgen ganz generell von tiefem Misstrauen zwischen den Staaten mit autoritären Herrschafts- und Wirtschaftssystemen einerseits und den offenen Systemen des Westens bestimmt sein wird. Dies gilt vor allem für die Wirtschaftsbeziehungen und für den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Technologie. Putin hat seinen chinesischen Freunden durch den Krieg in der Ukraine also einen echten Bärendienst erwiesen.

Wenn die Waffen dereinst schweigen werden, wird es in Europa zuerst um die Frage der Sicherheit vor Russland gehen, um die Frage des Wiederaufbaus der zerstörten Ukraine und deren Integration in die EU. Von Anfang an aber wird sich für Europa eine brennende, gleichwohl unabweisbare Frage in den Vordergrund drängen: Was wird aus Russland? Schon heute ist absehbar, dass der Krieg in der Ukraine für Russland zum weiteren Abschied von großrussischen Illusionen und Weltmachtträumen führen wird. Das Land leidet seit langem unter einem umfassenden Modernisierungsdefizit, das sich am Ende des Ukrainekriegs noch dramatisch verschärfen wird. Wirtschaftlich wird sich das Land, je länger der Krieg dauern wird umso mehr, als sehr angeschlagen erweisen; der Export von kohlenstoffbasierten Energieträgern wie Öl, Kohle und Erdgas wird, bedingt durch die fortschreitende Klimakrise und den Verlust traditioneller europäischer Märkte wegen des Ukrainekriegs, zum Zwecke der wirtschaftlichen Stabilisierung zumindest zu wesentlichen Teilen ausfallen. Alternativen sind kaum verfügbar. Wird unter diesen Bedingungen das Land zusammenzuhalten sein? Werden die 90iger Jahre des letzten Jahrhunderts in Potenz für Russland zurückkehren? Und damit auch für Europa?

Der europäische Westen wird sich von all diesen Herausforderungen in Osteuropa in der Zeit nach dem Ende des Ukrainekrieges nicht abwenden können, da all dies uns direkt betreffen wird. Die Zeiten liebgewonnener, sehr sympathischer Illusionen sind leider vorbei. Putin hat mehr zerstört, als er sich wohl selbst jemals gedacht hatte. Zudem droht Russland eine tiefe geistige Krise, solange es an dem Selbstbetrug der Weltmacht Russland und der autoritären Tradition der Welt der Zaren aus dem 19. Jahrhundert festhält. Ohne eine umfassende Modernisierung von Wirtschaft und politischem System wird Russland mit all seinen Atomwaffen einer dunklen Zukunft entgegengehen, und der demokratische Teil Europas wird zwangsweise daran teilhaben, weil wir nun mal für immer denselben Kontinent bewohnen. Ein sich desintegrierendes geopolitisches „schwarzes Loch“ von der Größe Russlands in Osteuropa und Nordasien verheißt keine gute Zukunft für den Kontinent.

Der Westen Europas hat nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des Kalten Krieges den halben Schritt hinein in die EU gemacht. Nach dem Krieg in der Ukraine muss der zweite Schritt folgen. Europa kann sich Schwäche angesichts dieser gewaltigen, friedensbedrohenden geopolitischen Herausforderungen einfach nicht mehr erlauben und muss daher jetzt im Geschwindschritt erwachsen werden.

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