Europas nächster Binnenmarkt

Die derzeitige Europäische Kommission hat deutlich gemacht, dass sie Bürokratie abbauen will, indem sie einen Regulierungsansatz verfolgt, der die Zahl der von ihr gemachten Gesetzesvorschläge auf ein Minimum beschränkt. Es ist uns ernst damit.

Doch unser Bekenntnis zur Verringerung der Zahl der Gesetze muss durch ein entsprechendes Engagement ergänzt werden, dafür zu sorgen, dass die Gesetze, die wir haben, auch wirklich zählen. Dies ist eine gemeinsame Verantwortung, und die Mitgliedsstaaten müssen dazu ihren Beitrag leisten. Solange die in Brüssel beschlossenen Gesetze nicht in nationales Recht überführt und ordnungsgemäß durchgesetzt werden, bleiben sie bloße Papiertiger und ohne jeden Biss.

Die meisten in Brüssel verabschiedeten Gesetze sehen eine Toleranzfrist – in der Regel etwa zwei Jahre – vor, innerhalb welcher die Mitgliedsstaaten tätig werden müssen. Die Mitgliedsstaaten legen diese Fristen selbst fest; also sollte die Zeit mehr als ausreichen. Danach sollte es keine Ausreden mehr geben.

Vor zehn Jahren lag die Diskrepanz zwischen der Zahl der in Brüssel verabschiedeten Gesetze zum gemeinsamen Binnenmarkt und jener, die in den Mitgliedsstaaten in Kraft waren – das so genannte Umsetzungsdefizit –, bei 6%. Angesichts dieser schwachen Bilanz setzte sich der Europäische Rat im Jahre 2001 einen Zielwert von 1,5%, der niemals überschritten werden sollte.

Seitdem hatten wir unsere Höhen und Tiefen, aber die meisten Mitgliedsstaaten haben beträchtliche Anstrengungen unternommen, um ihr Haus in Ordnung zu bringen. Zum allerersten Mal ist das durchschnittliche Defizit unter 1,5% gefallen und liegt nun bei 1,2%. Mehr noch: Alle Mitglieder haben Fortschritte erzielt, wobei Dänemark und Lettland – die beide jeweils nur noch fünf Richtlinien umzusetzen haben – sich den ersten Platz teilen.

Dies ist eine bedeutende Leistung, aber wir sollten sie nicht zum Anlass nehmen, uns darauf auszuruhen. Im Gegenteil, wir sollten uns fragen, ob es nicht Zeit für strengere Zielvorgaben ist. Und es ist nun die Zeit gekommen, uns genauer anzusehen, wo unsere Anstrengungen weiterhin unzureichend sind.

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Wenn Mitgliedsstaaten in Brüssel Gesetze unterschreiben, so erkennen sie damit ihre absolute Verpflichtung an, diese zu befolgen. Versäumen sie dies, so kommen sie damit ihrer Pflicht gegenüber den Verbrauchern und Unternehmen, die davon profitieren würden, nicht nach.

Auch sollten wir nicht zulassen, dass gute Gesamtergebnisse Probleme in bestimmten Bereichen verschleiern – wie etwa im öffentlichen Beschaffungswesen, das zwischen 15% und 20% des europäischen BIP ausmacht. Die Öffnung der Märkte und die ordnungsgemäße Anwendung der europäischen Regeln sorgt für staatliche Einsparungen und dafür, dass die Steuerzahler mehr für ihr Geld bekommen.

Ich bin daher tief enttäuscht, dass ein in diesem Bereich im Jahr 2004 verabschiedetes, auf die Vereinfachung und Modernisierung von Verfahren ausgerichtetes Maßnahmenpaket von mehreren Mitgliedsstaaten nicht innerhalb der vereinbarten Frist in nationales Recht überführt wurde. Ich warne all jene, die bisher untätig waren, dass ich alles Erforderliche unternehmen werde, um sie zum Handeln zu bewegen. Es geht nicht, dass wir uns weiterhin verpflichten, Europa wettbewerbsfähiger zu machen, und uns gleichzeitig die Mittel versagen, dies zu tun.

Doch die Verringerung des Umsetzungsdefizits, so wichtig sie ist, ist noch nicht alles. Gesetze in die nationalen Gesetzbücher zu bekommen, ist eine Sache; dafür zu sorgen, dass sie ordnungsgemäß angewandt und durchgesetzt werden, eine andere. Und während es bei der Überführung in nationales Recht gut aussieht, ist die Praxis vor Ort weniger rosig. Acht Mitgliedsstaaten haben es geschafft, die Anzahl der von der Kommission gegen sie angestrengten Vertragsverletzungsverfahren zu reduzieren; gegen 17 weitere jedoch laufen noch genau so viele oder mehr Verfahren als zum gleichen Zeitpunkt des vergangenen Jahres.

Ich bin mir bewusst, dass eine enge Zusammenarbeit und Partnerschaft mit den Mitgliedsstaaten erforderlich ist, und ich bin bereit, auf jede mir offen stehende Weise mit ihnen zusammenzuarbeiten, um ihnen bei der korrekten Überführung und Anwendung des EU-Rechts zu helfen. Ich ziehe es vor, Vertragsverletzungsverfahren zu vermeiden, denn sie sind kosten- und zeitaufwendig. Doch die Mitgliedsstaaten sollten wissen, dass ich mich nicht ausnutzen lasse. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das Gesetz durchgesetzt wird – ohne Furcht oder Gefälligkeiten –, und das werde ich auch weiterhin tun.

Der gemeinsame Binnenmarkt ist eine der größten Leistungen der Europäischen Union. Der Abbau von Hemmnissen bei der Freizügigkeit und beim freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr hat den Menschen überall auf unserem Kontinent mehr Wohlstand gebracht; er verbessert unsere Fertigkeiten im Innern und verleiht uns internationales Gewicht. Als wir vor 20 Jahren die große Anstrengung zur Schaffung des gemeinsamen Marktes unternahmen, gab es nur 12 Mitgliedsstaaten. Heute sind es 27. Europa hat sich deutlich verändert.

Wir haben außerdem eine Revolution im Bereich der Kommunikation und der Technologie erlebt, die alle Aspekte unseres Lebens berührt. Während sich den Bürgern und Unternehmen Europas gewaltige Chancen eröffnet haben, war der globale Konkurrenzkampf um Handel und Investitionen nie härter.

Im weiteren Jahresverlauf wird die Europäische Kommission eine Überprüfung des Binnenmarktes vorantreiben, um zu gewährleisten, dass Europa für das, was nun vor uns liegt, gerüstet ist. Dies ist eine wichtige Chance für Reformen und Erneuerung. Ein moderner Binnenmarkt sollte moderne Bedürfnisse widerspiegeln, und wir sollten unsere Anstrengungen dort konzentrieren, wo sie am meisten bewirken können.

Wir müssen Prioritäten setzen, die auf das reagieren, was die Menschen wollen und erwarten – Arbeitsplätze, Wachstum und Sicherheit. Um rasche Veränderungen bewältigen zu können, müssen wir im Bereich der Regulierung flexibel sein. Wir müssen akzeptieren, dass sich nicht alles vom Zentrum her erledigen lässt – was mehr Vertrauen und mehr Partnerschaft bedeutet, aber auch die verstärkte Bereitschaft, auf nachgeordneter Ebene mehr Verantwortung zu übernehmen.

Wenn wir bei der Schaffung eines Binnenmarktes Erfolg haben wollen, der sich der Welt öffnet, auf seinen inneren Stärken aufbaut und bei der Gestaltung unseres internationalen Umfeldes an forderster Linie mitwirkt, müssen unseren Anstrengungen auf EU-Ebene entsprechende Anstrengungen auf nationaler Ebene gegenüberstehen. Ich spreche den Mitgliedsstaaten für die bisher unternommenen Anstrengungen meine Anerkennung aus. Aber wir alle können noch mehr leisten.

https://prosyn.org/wZ15Aevde