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Aufstieg und bevorstehender Niedergang der chinesischen Fertigungsindustrie

MADISON, WISCONSIN – Chinas Überkapazitäten geben weltweit Anlass zur Sorge. Der Grund dafür ist unschwer zu erkennen: Auf China entfällt fast ein Drittel der weltweiten Wertschöpfung in der industriellen Fertigung und ein Fünftel der weltweiten Exporte in diesem Bereich. Es besteht jedoch durchaus Grund zur Annahme, dass der Niedergang der chinesischen Fertigungsindustrie unmittelbar bevorsteht.

Um die aktuelle Situation in China zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die jüngere Geschichte Japans zu werfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete der Fertigungssektor in Japan rasches Wachstum, was vor allem dem Zugang zum riesigen US-Markt zu verdanken war. Doch mit dem Plaza-Abkommen von 1985 (im Rahmen dessen der Yen aufgewertet und die japanischen Exporte geschwächt wurden), einer alternden Bevölkerung und einer schrumpfenden Zahl an Erwerbstätigen kehrte sich dieser Trend um.

Von 1985 bis 2022 sank der Anteil japanischer Erzeugnisse an den US-Importen von 22 auf 5 Prozent, und Japans Anteil an den weltweiten Ausfuhren der Fertigungsindustrie ging von 16 auf 4 Prozent zurück. Darüber hinaus verringerte sich auch Japans Anteil an der weltweiten Wertschöpfung des Fertigungssektors drastisch, und zwar von 22 Prozent im Jahr 1992 auf 5 Prozent im Jahr 2022. Und die Zahl der japanischen Unternehmen in der Fortune Global 500- Liste sank von 149 im Jahr 1995 auf aktuell nur noch 40.

Wie aus der Grafik hervorgeht, hat China in den letzten Jahrzehnten einen ähnlichen Aufwärtstrend vollzogen, doch der Aufstieg der chinesischen Fertigungsindustrie war noch stärker vom US-Markt abhängig. Im Zeitraum 1978-1984 entsprachen Japans Einfuhren aus den Vereinigten Staaten mit 51 Prozent etwa seinen Ausfuhren in die USA. Im Vergleich dazu lag der Anteil der chinesichen Importe aus den USA im Zeitraum 2001-2018 bei 23 Prozent.

[Grafik]

Verantwortlich für dieses Ungleichgewicht ist vor allem die chinesische Familienplanungspolitik. Normalerweise würde das verfügbare Einkommen der Haushalte 60-70 Prozent des BIP eines Landes ausmachen, um den Verbrauch der Haushalte in Höhe von etwa 60 Prozent  des BIP zu stützen. In China jedoch schränkte die Ein-Kind-Politik - die von 1980 bis 2015 in Kraft war - die Haushaltseinkommen ein, förderte hohe Ersparnisse und dämpfte die Binnennachfrage.

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Infolgedessen sank das verfügbare Einkommen der chinesischen Haushalte von 62 Prozent des BIP im Jahr 1983 auf derzeit 44 Prozent des BIP, wobei der Verbrauch der Haushalte von 53 auf 37 Prozent des BIP zurückging. Im Gegensatz dazu beträgt der Verbrauch der Haushalte in Japan  56 Prozent des BIP. Anders betrachtet: würden die Löhne normalerweise bei 60 bis 70 Dollar liegen, bekämen chinesische Beschäftigte nur 44 Dollar, die einer Kaufkraft von 37 Dollar entsprächen, während die Kaufkraft japanischer Arbeitnehmer bei 56 Dollar läge.

Chinas Regierung verfügt jedoch über reichlich finanzielle Ressourcen, die sie für Industriesubventionen und Investitionen in die verarbeitende Industrie einsetzt. Da der chinesische Fertigungssektor zudem hohe Renditen verspricht, sind internationale Investoren gerne bereit, ihr Kapital dorthin fließen zu lassen. Hinzu kommt noch ein Überschuss an etwa 100 Millionen Arbeitskräften, so dass sich Überkapazitäten nur schwer vermeiden lassen.

Angesichts der unzureichenden Binnennachfrage besteht Chinas einzige Möglichkeit zum Abbau seiner Überkapazitäten und zur Schaffung von ausreichend Arbeitsplätzen für seine Bevölkerung darin, einen hohen Leistungsbilanzüberschuss zu halten. An dieser Stelle kommen die USA ins Spiel: Der Anteil chinesischer Güter an den US-Importen stieg von 1 Prozent im Jahr 1985 auf 22 Prozent im Jahr 2017. Im Zeitraum 2001-2018 entfielen drei Viertel des chinesischen Handelsüberschusses auf die USA.

Chinas riesiger Überschuss steht spiegelbildlich zu Amerikas Defizit. Der Aufstieg des chinesischen Fertigungssektors ist wohl nicht der einzige, aber ein durchaus gewichtiger Grund für den Abstieg seines US-amerikanischen Pendants. Amerikas Anteil an den weltweiten Exporten des Fertigungsbereichs blieb zwischen 1971 und 2000 mit 13 Prozent stabil, ging jedoch nach dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 drastisch zurück und lag im Jahr 2022 bei nur noch 6 Prozent. Der Anteil Amerikas an der Wertschöpfung des Fertigungssektors brach ebenfalls ein, und zwar von 25 Prozent im Jahr 2000 auf 16 Prozent im Jahr 2021.

Der amerikanische Rust Belt, der sich von Wisconsin bis ins östliche Pennsylvania erstreckt, wurde durch diese Entwicklungen enorm in Mitleidenschaft gezogen, weswegen die Frustration der Bevölkerung gegenüber der Globalisierung und den „politischen Eliten“, die diese gefördert hatten, stetig wuchs. Im Jahr 2016 zog Donald Trump aufgrund dieser Frustration ins Weiße Haus ein und versprach, die US-Produktion wieder anzukurbeln und China zu zwingen, seine Handelspraktiken zu ändern. Trump hofft, im November dieses Jahres wieder das Gleiche tun zu können.

In diesem Sinne hat Chinas Ein-Kind-Politik die amerikanische politische Landschaft zwar indirekt, aber durchaus tiefgreifend verändert. Und heute gestaltet die amerikanische Politik die chinesische Wirtschaft neu. Die amerikanischen Maßnahmen gegen China, die 2018 mit Trumps Zöllen einsetzten und sich unter Präsident Joe Biden, verschärften, haben dazu geführt, dass der Anteil chinesischer Waren an den US-Importen in der ersten Hälfte des Jahres 2024 auf nur noch 12,7 Prozent gesunken ist.

China verliert nicht nur den amerikanischen Markt, sondern auch einige seiner eigenen Fertigungsbetriebe, die einen Teil ihrer Produktion in Länder wie Vietnam und Mexiko verlagern, um die US-Zölle zu umgehen. Diese teilweise Verlagerung deutet auf einen umfassenderen Rückzug hin, ähnlich der Situation des japanischen Fertigungssektors, als dieser im Niedergang begriffen war.

China ähnelt Japan zunehmend auch aus zwei anderen Gründen. Erstens schrumpft und altert die Erwerbsbevölkerung rapide. Nach Angaben der Regierung sind die jährlichen Geburten von durchschnittlich 23,4 Millionenin den Jahren 1962-1990 auf nur noch neun Millionen im letzten Jahr gesunken, und selbst diese Zahl ist wahrscheinlich stark übertrieben. In ein paar Jahren wird China wohl nur noch sechs Millionen Geburten pro Jahr verzeichnen. Unterdessen ist das Durchschnittsalter der Wanderarbeiter, die 80 Prozent der Beschäftigten im chinesischen Fertigungsbereich stellen, von 34 Jahren im Jahr 2008 auf 43 Jahre im vergangenen Jahr angestiegen, wobei der Anteil der über 50-Jährigen von 11 auf 31 Prozent gestiegen ist. Einige Produktionsstätten werden bereits wegen Arbeitskräftemangels geschlossen.

Zweitens wird Chinas Dienstleistungssektor das verarbeitende Gewerbe zusehends unter Druck setzen. Da die chinesische Regierung bestrebt ist, den Anteil der verfügbaren Haushaltseinkommen am BIP zu erhöhen, wird die chinesische Nachfrage nach US-Gütern steigen, und ein Teil der Beschäftigten im Fertigungssektor wird in den Dienstleistungssektor wechseln, wo auch die rasch wachsende Zahl von Hochschulabsolventen Aufnahme findet.

Der Niedergang des Fertigungssektors wird vielleicht nicht so schnell vonstatten gehen wie in Japan, da China über einen größeren Binnenmarkt und ein umfassenderes industrielles Ökosystem verfügt. Außerdem investiert das Land stark in künstliche Intelligenz und Robotik, was zu Produktivitätssteigerungen führen könnte. Dennoch ist der Niedergang unvermeidlich und unumkehrbar. Zum Leidwesen der USA wird dies jedoch nicht unbedingt zu einer Wiederbelebung der amerikanischen Industrie führen.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

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