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Eine Pandemie der Entglobalisierung?

PRINCETON – Der Ausbruch des neuen Coronavirus COVID-19, der in Wuhan (China) begann, könnte sich zu einer weltweiten Pandemie entwickeln. In fast 50 Ländern gibt es inzwischen bestätigte Fälle einer Erkrankung an dem Virus, und der genaue Übertragungsmechanismus ist weiterhin unklar.

Pandemien sind nicht nur vorübergehende Tragedien von Krankheit und Tod. Die Allgegenwärtigkeit von Bedrohungen derart massiven Umfangs und die damit einhergehende Unsicherheit und Furcht führen zu neuen Verhaltensmustern und Ansichten. Die Menschen werden zugleich misstrauischer und leichtgläubiger; vor allem aber nimmt ihre Bereitschaft ab, sich mit irgendetwas zu befassen, das fremd oder seltsam erscheint.

Niemand weiß, wie lange die COVID-19-Epidemie dauern wird. Falls die Ansteckungsgefahr mit Ankunft des Frühlings in der nördlichen Hemisphäre nicht abnimmt, werden nervöse Bevölkerungen weltweit womöglich bis zur Entwicklung und Einführung eines Impfstoffs warten müssen. Eine wichtige Variable ist auch die Effektivität der staatlichen Gesundheitsbehörden, die in vielen Ländern deutlich weniger kompetent sind als in China.

Auf jeden Fall destabilisieren Fabrikschließungen und Produktionsaussetzungen schon jetzt die globalen Lieferketten. Viele Produzenten ergreifen inzwischen Schritte, um ihre Risiken aus durch große Distanzen herrührenden Anfälligkeiten zu reduzieren. Bisher zumindest haben sich die Finanzkommentatoren auf Kostenberechnungen für bestimmte Sektoren konzentriert: über einen Mangel an Teilen besorgte Automobilhersteller, Textilhersteller, denen es an Stoffen fehlt, den Einzelhandel mit Luxusgütern, dem die Kunden ausgehen, und die Tourismusbranche, wo insbesondere Kreuzfahrtschiffe sich zu Ansteckungsherden entwickelt haben.

Über die Bedeutung dieses neuen Klimas der Unsicherheit für die Weltwirtschaft im Allgemeinen wurde bisher relativ wenig nachgedacht. Menschen, Unternehmen und womöglich sogar Regierungen werden, wenn sie die langfristigen Folgen der COVID-19-Krise durchdenken, versuchen, sich durch komplexe Verträge gegen Eventualitäten abzusichern. Es ist leicht vorstellbar, dass neue Finanzprodukte so strukturiert sein werden, dass im Falle eines Virus von gewissem Letalitätsniveau Auszahlungen an Automobilhersteller erfolgen. Die Nachfrage nach neuartigen Verträgen könnte angesichts sich vervielfachender Möglichkeiten zum Geldverdienen sogar neue Spekulationsblasen anheizen.

Die Geschichte bietet faszinierende Präzedenzfälle dafür, was als Nächstes passieren könnte. Man denke an die berühmte Finanzkrise im Gefolge der „Tulpenmanie“ in den Niederlanden zwischen 1635 und 1637. Diese Episode ist besonders bekannt, weil die Lehren daraus von dem schottischen Journalisten Charles Mackay in seinem 1841 erschienen Buch Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds(auf Deutsch erschienen unter dem Titel Zeichen und Wunder. Aus den Annalen des Wahns) populär gemacht wurden. Für Mackay schien die Tulpenkrise die spekulativen Wellen von Kapitalströmen in Eisenbahnen und andere technologische Entwicklungen in Nord- und Südamerika während seiner eigenen Lebenszeit vorwegzunehmen. In seinem Buch walzt er die Lächerlichkeit der Episode bis ins Letzte aus und erzählt Geschichten von unwissenden Matrosen, die im wahrsten Wortsinn ein Vermögen verschluckten, weil sie Tulpenzwiebeln versehentlich für Zwiebeln hielten.

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Allerdings ließ Mackay, wie die Kulturhistorikerin Anne Goldgar uns erinnert, dabei unerwähnt, dass die Manie mit einer außergewöhnlich hohen Sterblichkeit aufgrund der Pest zusammenfiel, die durch die im Dreißigjährigen Krieg kämpfenden Armeen verbreitet wurde, die Niederlande 1635 traf und ihren Höhepunkt in der Stadt Haarlem zwischen August und November 1636 erreichte, also genau zu jener Zeit, als die Tulpenmanie begann.

Die Flut von in Blumenzwiebeln fließendem Spekulationskapital wurde durch eine Welle unerwarteter Hinterlassenschaften von Pestopfern an deren überraschte Erben angeheizt. Tulpen dienten damals als eine Art Futures-Markt, weil Tulpenzwiebeln im Winter gehandelt wurden, wenn niemand die Beschaffenheit der Blüte überprüfen konnte. Sie wurden zugleich Gegenstand komplexer Verträge, wie etwa, dass ein festgelegter Preis zu zahlen sei, wenn die Kinder des Eigentümers im Frühjahr noch leben sollten (andernfalls würden die Tulpenzwiebeln gratis übertragen).

Die Finanzspekulation in diesem wilden, apokalyptischen Umfeld beruhte auf der herrschenden Unsicherheit, wurde jedoch häufig als Beleg für einen würdelosen Materialismus reinterpretiert, wobei der Zusammenbruch eine Anklage gegen gottlose Luxusgüter und ausländische Exotika repräsentierte. Schließlich stammten Tulpen ursprünglich aus der fremdartigen Kultur des Osmanischen Reiches.

Ganz wie heute lösten auch die Pestepidemien der frühen Neuzeit in Europa enorme Verschwörungstheorien aus. Je weniger offensichtlich der Ursprung der Krankheit, desto eher wurde sie auf irgendeinen bösartigen Einfluss zurückgeführt. Es zirkulierten Geschichten über unheimliche vermummte Gestalten, die von Tür zu Tür gingen und die Türflächen mit ansteckenden Substanzen „salbten“. Außenstehende – ausländische Händler und Soldaten – sowie die marginalisierten Armen wurden als Schuldige hingestellt.

Auch hier bietet uns eine Quelle aus dem 19. Jahrhundert eindringliche Lehren für heute. In Alessandro Manzonis 1827 erschienenem Roman I Promessi Sposi erreicht die Handlung ihren Höhepunkt während eines Pestausbruchs in Mailand in den 1630er Jahren, der als eine von Ausländern – nicht zuletzt der ausländischen Monarchie der spanischen Habsburger, die über Mailand herrschten – hergebrachte Geißel galt. Der Roman entwickelte sich zu einem starken Katalysator für den italienischen Nationalismus während des Risorgimento.

Es überrascht nicht, dass COVID-19 bereits in die heutigen nationalistischen Narrative Eingang gefunden hat. Einige Amerikaner werden den chinesischen Ursprung der Krankheit lediglich als Bestätigung dafür betrachten, dass China eine Gefahr für die Welt darstellt und man nicht darauf vertrauen könne, dass es sich verantwortlich verhält. Zugleich werden viele Chinesen einige US-Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus als rassisch motiviertes Manöver ansehen, das Chinas Aufstieg stoppen soll. Es zirkulieren bereits Verschwörungstheorien, dass die CIA das Virus entwickelt habe. In einer von Desinformation überfluteten Welt verspricht COVID-19 noch mehr Desinformation.

Wie der niederländische Historiker Johan Huizinga gezeigt hat, erwies sich die Phase nach dem Schwarzen Tod in Europa als „Herbst des Mittelalters“. Für Huizinga bestand die wahre Bedeutung der Pandemie nicht bloß in ihren wirtschaftlichen Nachwirkungen, sondern in dem Mystizismus, Irrationalismus und der Fremdenfeindlichkeit, die letztlich das Ende der bestehenden Universalkultur herbeiführten. Es ist gut möglich, dass COVID-19 in ähnlicher Weise einen „Herbst der Globalisierung“ auslösen wird.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/37PAua3de