PARIS – Die Europäische Union gehört zu den ehrgeizigsten politischen Projekten der Geschichte. In vielerlei Hinsicht zählt sie auch zu den erfolgreichsten, hat sie doch auf einem jahrhundertelang von gewaltsamen Konflikten gebeutelten Kontinent eine beispiellose Ära des Friedens und des Wohlstands unterstützt. Doch angesichts wachsender geopolitischer Turbulenzen und einer sich verschärfenden wirtschaftlichen Schieflage erscheinen die Errungenschaften der EU zunehmend gefährdet.
In einem viel diskutierten Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit Europas vom vergangenen Jahr beklagte der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank und frühere italienische Ministerpräsident Mario Draghi die wachsende Kluft zwischen der EU und den Vereinigten Staaten, sowohl im Hinblick auf die Wirtschaftsleistung als auch auf den globalen Einfluss. Die Überwindung dieser Schwächen wird kein leichtes Unterfangen werden, zumal US-Präsident Donald Trump wohl ein paar Grundprinzipien der EU-Politik in Frage stellen wird.
Das vielleicht gravierendste Risiko für die Zukunft Europas ist jedoch hausgemacht. Von der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis zur Einführung des Euro beruhte die europäische Integration – und die damit verbundene Stabilität und der Wohlstand – stets auf einem pragmatischen, schrittweisen und projektorientierten Ansatz. Um die Jahrtausendwende veränderte sich jedoch etwas: Europa begann, sich über seine „Werte“ zu definieren, und nicht mehr über konkrete Indikatoren wie Wirtschaftsleistung, technologischen Fortschritt und geopolitischen Einfluss.
Heute scheint die europäische Politik gegenüber Wirtschaftswachstum, Innovation und Zusammenarbeit völlig gleichgültig und manchmal sogar feindselig eingestellt zu sein. Ein typisches Beispiel ist die Tech-Regulierung. Anstatt mit ihren demokratischen Partnern eine gemeinsame Basis zu finden – die Regierung des ehemaligen US-Präsidenten Joe Biden war zweifellos bereit, die großen Tech-Unternehmen im Zaum zu halten – verstrickten sich führende Persönlichkeiten der EU in Meinungsverschiedenheiten und entschieden sich schließlich für den Alleingang. Unter Aufwendung eines enormen Maßes an politischer Energie wurden weitreichende Richtlinien wie das Gesetz über digitale Dienste und das Gesetz über digitale Märkte erarbeitet. Diese Bestimmungen können jedoch von anderen Regierungen angefochten werden. Und da die führenden Technologieunternehmen bei der Gestaltung der globalen politischen Agenda nun eng mit Trump zusammenarbeiten, wird es immer schwieriger werden, ihre Aktivitäten zu regulieren.
Das Problem der Politikgestaltung auf der Grundlage hehrer Prinzipien besteht darin, dass sich die Ergebnisse häufig losgelöst von wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Realitäten präsentieren. Tatsächlich werden EU-Technologievorschriften in der Regel ausgearbeitet und umgesetzt, bevor die entsprechende Technologie oder Branche überhaupt vollständig entwickelt ist, oft sogar dann, wenn in dem betreffenden Bereich noch gar keine europäischen Unternehmen tätig sind. Während Europa also weltweit führend bei der Festlegung von Standards für die digitale Wirtschaft ist, spielt es bei der Entwicklung und Produktion der damit verbundenen Technologien nur eine untergeordnete Rolle. Die Datenschutzgrundverordnung der EU wird weithin als Vorbild für ähnliche Regelungen angesehen, doch gibt es in der Union weit weniger große Rechenzentren als in den USA. Ebenso verfügt die EU zwar über das weltweit fortschrittlichste Regulierungssystem für künstliche Intelligenz, beherbergt aber auf ihrem Gebiet fast keine KI-Unternehmen.
Ein eng gefasster, wertebasierter Ansatz kann auch zu politischen Maßnahmen führen, die den unmittelbaren Bedürfnissen der Menschen nicht Rechnung tragen oder ihnen sogar zuwiderlaufen, wodurch Entfremdung und Ressentiments entstehen. Das vielleicht markanteste Beispiel ist die Energiewende. Die Emissionen der EU liegen pro BIP-Einheit weltweit am niedrigsten, nachdem sie in den letzten zehn Jahren den stärksten Rückgang verzeichneten. Darüber hinaus hat sich die EU die weltweit ehrgeizigsten Ziele zur Emissionsreduzierung auferlegt und sie wird wahrscheinlich als einziger Wirtschaftsraum eine signifikante CO2-Steuer einführen.
It is not too late to watch our AI Action Summit event.
Click the link to watch world leaders, tech experts, and other distinguished speakers – including Justin Trudeau, Petr Pavel, Daron Acemoglu, Reid Hoffman, Marianna Mazzucato, James Manyiga, Audrey Tang, Sylvain Duranton, Celina Lee, Patrick Pouyanné, and others – discuss some of the most important questions raised by the rise of artificial intelligence.
Watch Now
Allerdings hat Europa auch mit die weltweit höchsten Energiepreise – deutlich höhere als in den USA. Fast ein Viertel dieser Differenz ist auf Steuern und CO2-Kosten in der EU zurückzuführen. Es überrascht nicht, dass die hohen Energiepreise in mehreren EU-Ländern zu Streiks und Protesten geführt haben und populistischen Parteien einen gewichtigen Grund für ihre Mobilisierung liefern.
Dieser wertebasierte Ansatz der EU könnte auch den internationalen Einfluss der Union untergraben. Die europäische Führung geht im Allgemeinen davon aus, dass ihr die Größe des EU-Marktes einen erheblichen Einfluss auf andere Länder verschafft. Aber Marktgröße bedeutet nicht automatisch Marktmacht. Wie kann Europa erwarten, eine Führungsrolle bei der Festlegung weltweiter Standards für Spitzentechnologien zu spielen, ohne diese Technologien selbst zu produzieren? Was könnte Europa ausrichten, wenn sich China und die USA darauf einigen, wie (oder wie nicht) KI reguliert werden soll? Es könnte höchstens seine Verbraucherinnen und Verbraucher „schützen“, allerdings um den Preis ihrer Isolierung. Apple hat die Einführung neuer KI-gestützter Funktionen in Europa aufgrund der EU-Wettbewerbsregeln bereits aufgeschoben.
Selbst dort, wo die EU aufgrund ihrer Marktgröße über erheblichen Einfluss verfügt, sollte sie es sich zweimal überlegen, diesen Einfluss zu nutzen, um anderen ihre Werte aufzuzwingen. Maßnahmen wie der CO2-Grenzausgleichsmechanismus schüren den Unmut in Schwellen- und Entwicklungsländern, denen hohe Kosten aufgezwungen werden, um ihren Zugang zum EU-Markt behalten zu können. In einer zunehmend fragmentierten und ungeordneten Welt läuft ein isoliertes Europa Gefahr, nicht nur zur Zielscheibe von Trumps USA, sondern auch von ehrgeizigen und aggressiven Schwellenländern wie China zu werden.
Um die bevorstehenden Herausforderungen zu meistern, muss Europa zu seinen Wurzeln zurückkehren und eine pragmatische Politik verfolgen, die gemeinsame Interessen fördert. So wie Europa in den 1950er Jahren seine Kohle- und Stahlindustrie in einen Binnenmarkt integrierte, sollte es heute seine Technologiesektoren integrieren und seine digitalen Ressourcen bündeln. Darüber hinaus gilt es, die europäische Digital- und Umweltgesetzgebung zu überarbeiten und zu reformieren – nicht nur zu vereinfachen – damit sie mit Effizienz, Dynamik und Fairness vereinbar ist. Maßnahmen wie der Grenzausgleichsmechanismus sollten verschoben werden, bis ein Dialog mit den Entwicklungsländern stattgefunden hat.
Unterdessen wäre die Politik gut beraten, stärker auf unabhängige, vom regulatorischen und politischen Apparat getrennte Akteure zu setzen, um die Entwicklung von High-Tech-Industrien zu unterstützen und die Produktionsbasis der EU zu stärken. Institutionen wie die EZB und Unternehmen wie Airbus haben mehr zum Wohlstand und Einfluss Europas beigetragen als jede Richtlinie.
Das soll nicht heißen, dass Europa seine Rolle als globaler Vorreiter in Sachen Qualitätsstandards aufgeben sollte. Im Gegenteil: Gerade ein stärker praxisorientierter, die realen Gegebenheiten berücksichtigender Ansatz ist notwendig, damit Europa diese Rolle effektiver wahrnehmen kann.
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Daniel Gros
hopes that a Chinese startup's apparent AI breakthrough will provide a much-needed boost to European competitiveness, advises the EU on how to deal with Donald Trump, urges Europe to improve conditions for bottom-up innovation, and more.
Despite Donald Trump's promise to boost fossil-fuel production, the economic and technological forces driving the clean-energy revolution cannot be stopped. The global transition will power forward, even if America has abandoned climate leadership, and even if the road ahead includes a few more bumps.
assuages fears that the global energy transition will be thrown into reverse by the new US administration.
Perhaps US efforts to cut off China’s access to advanced semiconductors will be more successful than analogous restrictions on tech exports to France in the 1960s. But we now have at least one data point – DeepSeek – that suggests otherwise.
questions the effectiveness of efforts to limit China’s access to advanced semiconductors.
PARIS – Die Europäische Union gehört zu den ehrgeizigsten politischen Projekten der Geschichte. In vielerlei Hinsicht zählt sie auch zu den erfolgreichsten, hat sie doch auf einem jahrhundertelang von gewaltsamen Konflikten gebeutelten Kontinent eine beispiellose Ära des Friedens und des Wohlstands unterstützt. Doch angesichts wachsender geopolitischer Turbulenzen und einer sich verschärfenden wirtschaftlichen Schieflage erscheinen die Errungenschaften der EU zunehmend gefährdet.
In einem viel diskutierten Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit Europas vom vergangenen Jahr beklagte der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank und frühere italienische Ministerpräsident Mario Draghi die wachsende Kluft zwischen der EU und den Vereinigten Staaten, sowohl im Hinblick auf die Wirtschaftsleistung als auch auf den globalen Einfluss. Die Überwindung dieser Schwächen wird kein leichtes Unterfangen werden, zumal US-Präsident Donald Trump wohl ein paar Grundprinzipien der EU-Politik in Frage stellen wird.
Das vielleicht gravierendste Risiko für die Zukunft Europas ist jedoch hausgemacht. Von der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis zur Einführung des Euro beruhte die europäische Integration – und die damit verbundene Stabilität und der Wohlstand – stets auf einem pragmatischen, schrittweisen und projektorientierten Ansatz. Um die Jahrtausendwende veränderte sich jedoch etwas: Europa begann, sich über seine „Werte“ zu definieren, und nicht mehr über konkrete Indikatoren wie Wirtschaftsleistung, technologischen Fortschritt und geopolitischen Einfluss.
Heute scheint die europäische Politik gegenüber Wirtschaftswachstum, Innovation und Zusammenarbeit völlig gleichgültig und manchmal sogar feindselig eingestellt zu sein. Ein typisches Beispiel ist die Tech-Regulierung. Anstatt mit ihren demokratischen Partnern eine gemeinsame Basis zu finden – die Regierung des ehemaligen US-Präsidenten Joe Biden war zweifellos bereit, die großen Tech-Unternehmen im Zaum zu halten – verstrickten sich führende Persönlichkeiten der EU in Meinungsverschiedenheiten und entschieden sich schließlich für den Alleingang. Unter Aufwendung eines enormen Maßes an politischer Energie wurden weitreichende Richtlinien wie das Gesetz über digitale Dienste und das Gesetz über digitale Märkte erarbeitet. Diese Bestimmungen können jedoch von anderen Regierungen angefochten werden. Und da die führenden Technologieunternehmen bei der Gestaltung der globalen politischen Agenda nun eng mit Trump zusammenarbeiten, wird es immer schwieriger werden, ihre Aktivitäten zu regulieren.
Das Problem der Politikgestaltung auf der Grundlage hehrer Prinzipien besteht darin, dass sich die Ergebnisse häufig losgelöst von wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Realitäten präsentieren. Tatsächlich werden EU-Technologievorschriften in der Regel ausgearbeitet und umgesetzt, bevor die entsprechende Technologie oder Branche überhaupt vollständig entwickelt ist, oft sogar dann, wenn in dem betreffenden Bereich noch gar keine europäischen Unternehmen tätig sind. Während Europa also weltweit führend bei der Festlegung von Standards für die digitale Wirtschaft ist, spielt es bei der Entwicklung und Produktion der damit verbundenen Technologien nur eine untergeordnete Rolle. Die Datenschutzgrundverordnung der EU wird weithin als Vorbild für ähnliche Regelungen angesehen, doch gibt es in der Union weit weniger große Rechenzentren als in den USA. Ebenso verfügt die EU zwar über das weltweit fortschrittlichste Regulierungssystem für künstliche Intelligenz, beherbergt aber auf ihrem Gebiet fast keine KI-Unternehmen.
Ein eng gefasster, wertebasierter Ansatz kann auch zu politischen Maßnahmen führen, die den unmittelbaren Bedürfnissen der Menschen nicht Rechnung tragen oder ihnen sogar zuwiderlaufen, wodurch Entfremdung und Ressentiments entstehen. Das vielleicht markanteste Beispiel ist die Energiewende. Die Emissionen der EU liegen pro BIP-Einheit weltweit am niedrigsten, nachdem sie in den letzten zehn Jahren den stärksten Rückgang verzeichneten. Darüber hinaus hat sich die EU die weltweit ehrgeizigsten Ziele zur Emissionsreduzierung auferlegt und sie wird wahrscheinlich als einziger Wirtschaftsraum eine signifikante CO2-Steuer einführen.
PS Events: AI Action Summit 2025
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Allerdings hat Europa auch mit die weltweit höchsten Energiepreise – deutlich höhere als in den USA. Fast ein Viertel dieser Differenz ist auf Steuern und CO2-Kosten in der EU zurückzuführen. Es überrascht nicht, dass die hohen Energiepreise in mehreren EU-Ländern zu Streiks und Protesten geführt haben und populistischen Parteien einen gewichtigen Grund für ihre Mobilisierung liefern.
Dieser wertebasierte Ansatz der EU könnte auch den internationalen Einfluss der Union untergraben. Die europäische Führung geht im Allgemeinen davon aus, dass ihr die Größe des EU-Marktes einen erheblichen Einfluss auf andere Länder verschafft. Aber Marktgröße bedeutet nicht automatisch Marktmacht. Wie kann Europa erwarten, eine Führungsrolle bei der Festlegung weltweiter Standards für Spitzentechnologien zu spielen, ohne diese Technologien selbst zu produzieren? Was könnte Europa ausrichten, wenn sich China und die USA darauf einigen, wie (oder wie nicht) KI reguliert werden soll? Es könnte höchstens seine Verbraucherinnen und Verbraucher „schützen“, allerdings um den Preis ihrer Isolierung. Apple hat die Einführung neuer KI-gestützter Funktionen in Europa aufgrund der EU-Wettbewerbsregeln bereits aufgeschoben.
Selbst dort, wo die EU aufgrund ihrer Marktgröße über erheblichen Einfluss verfügt, sollte sie es sich zweimal überlegen, diesen Einfluss zu nutzen, um anderen ihre Werte aufzuzwingen. Maßnahmen wie der CO2-Grenzausgleichsmechanismus schüren den Unmut in Schwellen- und Entwicklungsländern, denen hohe Kosten aufgezwungen werden, um ihren Zugang zum EU-Markt behalten zu können. In einer zunehmend fragmentierten und ungeordneten Welt läuft ein isoliertes Europa Gefahr, nicht nur zur Zielscheibe von Trumps USA, sondern auch von ehrgeizigen und aggressiven Schwellenländern wie China zu werden.
Um die bevorstehenden Herausforderungen zu meistern, muss Europa zu seinen Wurzeln zurückkehren und eine pragmatische Politik verfolgen, die gemeinsame Interessen fördert. So wie Europa in den 1950er Jahren seine Kohle- und Stahlindustrie in einen Binnenmarkt integrierte, sollte es heute seine Technologiesektoren integrieren und seine digitalen Ressourcen bündeln. Darüber hinaus gilt es, die europäische Digital- und Umweltgesetzgebung zu überarbeiten und zu reformieren – nicht nur zu vereinfachen – damit sie mit Effizienz, Dynamik und Fairness vereinbar ist. Maßnahmen wie der Grenzausgleichsmechanismus sollten verschoben werden, bis ein Dialog mit den Entwicklungsländern stattgefunden hat.
Unterdessen wäre die Politik gut beraten, stärker auf unabhängige, vom regulatorischen und politischen Apparat getrennte Akteure zu setzen, um die Entwicklung von High-Tech-Industrien zu unterstützen und die Produktionsbasis der EU zu stärken. Institutionen wie die EZB und Unternehmen wie Airbus haben mehr zum Wohlstand und Einfluss Europas beigetragen als jede Richtlinie.
Das soll nicht heißen, dass Europa seine Rolle als globaler Vorreiter in Sachen Qualitätsstandards aufgeben sollte. Im Gegenteil: Gerade ein stärker praxisorientierter, die realen Gegebenheiten berücksichtigender Ansatz ist notwendig, damit Europa diese Rolle effektiver wahrnehmen kann.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier