Was ich von Wladimir Putin gelernt habe

LONDON – Neigt Wladimir Putin, wie die meisten Spitzenpolitiker, dazu, die Wahrheit für seine Zwecke etwas zu verbiegen? Oder geht er weit darüber hinaus und lässt sich bei der Regierungsführung wie auch und im Umgang mit seinen Nachbarn von einer rücksichtlosen Verlogenheit leiten, unterstützt von gleichgültigen nationalen Medien? Manchmal, wenn wir Fragen wie diese beantworten, hilft uns nicht nur, was wir gehört und gesehen haben, sondern auch, was wir selbst erlebt haben.

Ich bin Putin zum ersten Mal im Oktober 1999 in Helsinki bei einem Gipfel zwischen der EU und Russland begegnet, an dem ich als EU-Kommissar für Außenbeziehungen teilnahm. Präsident Boris Jelzin hatte seine Teilnahme im letzten Moment wegen "Unpässlichkeit" abgesagt. Als Vertreter schickte er den neuen Ministerpräsidenten Wladimir Putin, dessen Verhalten die alte Weisheit bestätigte, dass man einen Mann aus dem KGB herausnehmen kann, nicht aber den KGB aus einem Mann.

An einem frühen Morgen, während der Vorbereitungen auf das Treffen, hörte das EU-Team von einer Explosion in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny, bei der mehrere Menschen getötet worden waren. Als Putin ankam, fragten wir ihn danach. Er gab vor, nichts zu wissen und versprach, bis zum Mittagessen herauszufinden, was geschehen war.

Beim Mittagessen berichtet er dann, tschetschenische Terroristen, die ihren eigenen Waffenhandel betrieben, seien verantwortlich für die Explosion. Da wussten wir bereits, dass das russische Militär für den Anschlag verantwortlich war, später stellte sich heraus, dass eine Welle russischer Raketen (wahrscheinlich Scuds) mehr als hundert Menschen getötet hatte.

Putin hatte uns in die Augen geschaut und gelogen, mit großer Wahrscheinlichkeit war ihm klar, dass wir wussten, dass er log. In dem Kommuniqué, das später verfasst wurde, wurde Tschetschenien mit keinem Wort erwähnt, sondern es enthielt das übliche "Blabla" über gemeinsame Werte, den Glauben an die Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die Notwendigkeit für eine strategische Kooperation.

Ich kann mich an zahllose andere Gelegenheiten erinnern, an denen Putin und seine Kollegen - wie soll ich sagen - äußerst eigenwillige Interpretationen der Wahrheit zum Besten gaben. Hinsichtlich Tschetschenien berichteten sie regelmäßig, dass sie keine Beschwerden von der EU über humanitäre Hilfe erhalten hätten oder dass sie den UN-Code für Hilfsmaßnahmen einhielten, was beides nicht den Tatsachen entsprach. Eine ähnliche Einstellung charakterisierte Verhandlungen über Handel, Partnerschaftsabkommen, die EU-Erweiterung nach Osteuropa und den Zugang zu Kaliningrad.

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Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer irgendetwas zu glauben, was Putin über die Geschehnisse in der Ukraine sagt - eine Ansicht, die von vielen Beobachtern in Polen und den baltischen Staaten geteilt wird.

Putin war immer gegen eine Ausrichtung der Ukraine nach Westen, ein Thema, bei dem die EU selbst auch eher reserviert vorgeht. Die EU war bereit, die "europäische Bestimmung" der Ukraine anzuerkennen, tat aber so wenig wie möglich, um praktische Konsequenzen dieser Bestimmung zu ermutigen.

Als die Ukrainer zu Beginn des Jahres ihren korrupten Präsidenten Wiktor Janukowitsch vertrieben, nachdem er aus einem EU-Assoziierungsabkommen ausgestiegen war, machte sich Russland daran, das Land zu destabilisieren. Die Krim wurde mit der fadenscheinigen Begründung annektiert, sie sei einmal Teil von Russland gewesen, eine Begründung, die im Rest von Europa für jede Menge blutiger Grenzneuverlegungen sorgen würde.

Dann unterstützte Russland die Separatisten aktiv bei der Übernahme von Teilen der Ostukraine, was direkt zu dem Abschuss von Flug 17 der Malaysian Airlines und dem Tod aller 298 Insassen führte. Es war wahrscheinlich ein Unfall, aber es war ein Unfall, der nur durch Russlands verlogene und fatale Einmischung möglich wurde.

Die Vorgehensweise von Putins Regime macht mich also zwar traurig, aber sie überrascht mich nicht. Ich hoffe sehr, dass mich die EU positiv überrascht, indem sie aufgrund der Geschehnisse in der Ukraine für internationale Anständigkeit und Rechtsstaatlichkeit einsteht. Wir sollten nicht mehr über gemeinsame Werte reden. Dies ist der Moment für stählerne Prinzipien.

Das wird die extreme Rechte Europas nicht freuen, von Ungarns Jobbik bis hin zur Front National in Frankreich. Sie lieben Putin.

Aber die Ukraine war ein Schritt zu viel für einige seiner ehemaligen Bewunderer, wie Nigel Farage, den Vorsitzenden der United Kingdom Independence Party. Hätte Farage eigene Erfahrungen im Umgang mit Putin gemacht, hätte er die Situation vielleicht viel früher richtig eingeschätzt.

Aus dem Englischen von Eva Göllner.

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