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Die Zukunft von Chinas Finanzsystem

HONG KONG – Letzten Monat fand in China die erste zentrale Arbeitskonferenz zum Finanzsektor seit 2017 statt – die wichtigste Überprüfung des Finanzsektors durch die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Angesichts der Tatsache, dass der chinesische Finanzsektor das weltweit größte Bankensystem nach Vermögenswerten (53,1 Billionen US-Dollar) und das zweitgrößte (nach den USA) nach Börsenkapitalisierung umfasst – und dass der gesamte Ständige Ausschuss des Politbüros an der Konferenz teilnimmt, haben die dort getroffenen Entscheidungen und sogar der angeschlagene Ton, globale Auswirkungen.

Der im Anschluss an die Konferenz veröffentlichte Bericht bestätigte, dass sich die grundsätzliche Haltung der KPCh zum Finanzsektor nicht geändert hat. Für die chinesische Führung besteht die grundlegende Funktion des Finanzsektors darin, der Realwirtschaft zu dienen, und die Regierung ist für die Aufrechterhaltung der Stabilität, das Risikomanagement und die Förderung der inländischen Innovation und hochwertigen Entwicklung verantwortlich.

Der Schwerpunkt der Diskussionen hat sich jedoch seit 2017 deutlich verlagert, als die Bewältigung von Ungleichgewichten im Zusammenhang mit Schattenbanken, Ausgaben der Lokalregierungen und Exzessen im Immobiliensektor im Vordergrund standen. Alle Risiken in diesen Bereichen wurden durch die massiven geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen der chinesischen Regierung nach der globalen Finanzkrise von 2008 verschärft.

Im vergangenen Monat standen die Geld- und Fiskalpolitik wieder ganz oben auf der Tagesordnung, aber die Umstände – und die damit verbundenen Herausforderungen – waren ganz andere. Schließlich hat China seinen makroökonomischen Kurs bereits vor Jahren gestrafft. Die Schlüsselfrage lautet nun: Wie sollten Geld- und Fiskalpolitik angepasst und eingesetzt werden, um qualitativ hochwertiges Wachstum und Strukturreformen angesichts sich verändernder interner und externer Bedingungen zu unterstützen?

Zu den wichtigsten externen Faktoren, die die chinesische Führung berücksichtigen muss, gehört die anhaltende Lockerung der Geld- und Fiskalpolitik in den OECD-Ländern. Den Daten der Federal Reserve zufolge ist der einjährige Realzins in den USA seit 2009 größtenteils negativ. Dies galt auch im letzten Jahr: Obwohl die Fed die Zinsen kontinuierlich anhob, um die steigende Inflation einzudämmen, lag der einjährige reale Zinssatz in den USA bei -1,9 %.

Ähnliche Sätze findet man in der Eurozone, in Japan und in Großbritannien. Aber in China sind die realen Zinssätze viel höher, auch wenn der Nominalzins niedrig ist. Nach Angaben der Weltbank lag der Realzinssatz in China im Jahr 2022 bei 2,1 %, während er in Indien nur 0,2 % betrug.

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Diese geldpolitische Divergenz hatte erhebliche Auswirkungen auf den chinesischen Finanzsektor und die Devisenmärkte. In den vier Quartalen bis Juni 2023 erreichte Chinas Defizit bei den Portfolioinvestitionen (Nettoabflüsse) 186 Mrd. US-Dollar, verglichen mit nur 96 Mrd. US-Dollar in den vier Quartalen davor. Und in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 sank der reale effektive Wechselkurs Chinas um 5,4 %, da die Inflationsrate unter der seiner wichtigsten Handelspartner lag.

Intern steht China vor der großen Herausforderung, seine Wirtschaft zu dekarbonisieren. Das Erreichen des Höhepunktes der Kohlenstoffemissionen bis 2030 und der Netto-Null-Emissionen bis 2060 gemäß Chinas „30-60“-Verpflichtung ist von entscheidender Bedeutung, um eine nachhaltige Entwicklung von hoher Qualität zu ermöglichen. Kurzfristig übt die Dekarbonisierung jedoch einen erheblichen Druck auf das Wachstum aus. Immerhin macht die Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes in China immer noch rund 28 % des BIP aus – weit mehr als die 13 % im Durchschnitt der OECD-Länder.

Dieses Spannungsfeld zwischen kurzfristigen Erwägungen und langfristigen Zielen geht weit über die Dekarbonisierung hinaus und war auch das beherrschende Thema der Konferenz im vergangenen Monat. Um die langfristigen Ziele zu erreichen, muss China kurzfristige Liquiditätsprobleme überwinden, die durch die jüngsten Veränderungen und Schocks verursacht wurden, darunter Zinserhöhungen in den Industrieländern, die COVID-19-Pandemie, geopolitisch bedingte Veränderungen der Lieferketten und fallende Vermögenspreise.

Nur mit reichlich Liquidität kann China dem Deflationsdruck und dem schwindenden Vertrauen der Verbraucher und Investoren entgegenwirken, die Bilanzen der Kommunen (die durch die COVID-19-Pandemie stark in Mitleidenschaft gezogen wurden) wiederherstellen und Innovationen (die für Chinas langfristigen Wohlstand entscheidend sind) finanzieren. Um Chinas Dekarbonisierungsziele zu erreichen, sind ebenfalls erhebliche Finanzmittel erforderlich.

Die Mobilisierung der erforderlichen Ressourcen erfordert einen niedrigeren Realzins, der China auch dabei helfen würde, kurzfristige Probleme wie die Deflation der Vermögenspreise anzugehen und mittel- und langfristige Herausforderungen wie die Stabilisierung des Immobiliensektors und die Alterung der Bevölkerung zu bewältigen. Glücklicherweise hat China während seines jahrzehntelangen rasanten Wachstums beträchtliche finanzielle Vermögenswerte und Reserven aufgebaut, so dass es über den nötigen geld- und fiskalischen Spielraum verfügt, um den kurzfristigen Liquiditätsbedarf zu decken und langfristige Strukturreformen zu unterstützen.

Obwohl der Konferenzbericht die Bereiche hervorhebt, in denen die Zentralregierung eingreifen wird, um die Wirtschaft zu stärken und zu stabilisieren – von der Sanierung der Bilanzen von Unternehmen und Kommunen bis hin zur Förderung von Investitionen in Innovationen – wäre es falsch zu glauben, dass China eine stärkere wirtschaftliche Zentralisierung anstrebt. Im Gegenteil, der Konferenzbericht bekräftigt die Notwendigkeit, dass der Finanzsektor eine nachhaltige Entwicklung von hoher Qualität unterstützt, indem er Innovationen finanziert, seine Effizienz verbessert und sich weiter öffnet.

Zu diesem Zweck befürwortete der Bericht eine umfassende Modernisierung des Aktienmarktes, einschließlich der Diversifizierung der Kanäle für die Eigenkapitalfinanzierung. Die chinesische Führung ist sich der entscheidenden Rolle einer solchen Finanzierung bei der Risikoteilung und dem Risikomanagement in Bereichen wie Innovation und fortgeschrittene Fertigung bis hin zur Lebensmittel- und Energiesicherheit, bewusst.

Der Konferenzbericht betont zudem, dass China auf private Unternehmen, die zum Wirtschaftswachstum und zur Modernisierung der Wirtschaft beitragen, angewiesen ist. Dazu gehören auch ausländische Unternehmen und Investoren, deren Interesse am chinesischen Markt trotz der geopolitischen Spannungen ungebrochen ist. Auf der jüngsten Shanghai China International Import Expo, einer der größten Messen der Welt, stellten US-Unternehmen die größte ausländische Delegation.

Chinas riesige und komplexe Wirtschaft ist durch Spannungen zwischen der Zentralregierung und den lokalen Regierungen, dem öffentlichen und dem privaten Sektor, den verschiedenen Regionen sowie internen und externen Bedingungen gekennzeichnet. In einem solchen System muss eine zentrale Behörde die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Stabilität und die Festlegung der politischen Richtung übernehmen.

Aber genauso wie eine ungezügelte Liberalisierung zu Chaos führen würde, würde eine übermäßige Zentralisierung Wachstum und Entwicklung behindern. Aus diesem Grund bekräftigt der Konferenzbericht zwar die Rolle der Regierung bei der Sicherung der makroökonomischen Stabilität, bringt aber gleichzeitig ein nachhaltiges Engagement für die schrittweise Öffnung der chinesischen Wirtschaft für ausländische Investitionen und privaten Wettbewerb zum Ausdruck. Zusammen mit dem Tauwetter in den Beziehungen zwischen den USA und China, das durch das jüngste Treffen zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und seinem amerikanischen Amtskollegen Joe Biden angedeutet wurde, gibt es gute Gründe für die Annahme, dass das China von morgen innovativer, offener und dynamischer sein wird als je zuvor.

Übersetzung: Andreas Hubig

https://prosyn.org/n4a9ZVvde