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Ist die Blockchain bereit für den großen Auftritt?

CAMBRIDGE: Angesichts des Tauwetters bei Kryptowährungen und eines neuerlichen Interesses der Finanzunternehmen an digitalen Vermögenswerten ist eine alte Debatte wieder in Gang gekommen: Ist die Blockchain wirklich die „Vertrauensmaschine“, als die sie die Zeitschrift The Economist 2015 beschrieben hat?

Eine Gestalt aus dem Venedig des 15. Jahrhunderts kann uns bei der Beantwortung dieser Frage helfen. Obwohl er weder Technologe noch Banker war, erinnert man sich an den Franziskanermönch Luca Pacioli heute für seine Entwicklung der doppelten Buchführung, die großen Teilen der modernen Wirtschaft zugrundeliegt. Es war sein geniales Modell, das zur Erfassung von Transaktionen zwei separate Konten für Soll und Haben einführte.

Diese scheinbar langweilige und umständliche geringfügige Optimierung einer zentralen Geschäftsfunktion sorgte nicht nur für Genauigkeit und verringerte Betrug; sie verschaffte Unternehmern zugleich neue Erkenntnisse darüber, wie sie ihre Geschäft führen und verbessern und ihre Kosten senken konnten. Mit Paciolis System nahm die Effizienz stark zu, der Handel gewann an Tempo, und die Renaissance hob ab. Die doppelte Buchführung entwickelte sich zu einem Eckstein der Wirtschaftsaktivität, denn sie war einfach, leicht vermittelbar und unbestreitbar nützlich. Jahrhunderte später wurden auf Paciolis Arbeit beruhende Finanzabschlüsse für alle Unternehmen verpflichtend vorgeschrieben. Das ist die Kraft, die einer simplen Verbesserung der Infrastruktur innewohnt.

Die umfassende Lehre daraus ist, dass eine Innovation, die den Weg von der Entwicklung zur weltweiten Übernahme durchläuft, sich in der Regel in dreierlei Hinsicht das Vertrauen der Öffentlichkeit erwerben muss: Funktioniert sie? Ist sie nützlich? Ist sie sicher? Oder anders ausgedrückt: Die Nutzer erwarten Kompetenz, Nützlichkeit und Zuverlässigkeit.

Die heutigen Fürsprecher der Blockchain betrachten diese Technologie als nächsten großen Sprung auf dem Weg hin zu einer enormen Effizienzsteigerung bei Finanztransaktionen. „Das Grundproblem bei herkömmlichen Währungen ist all das Vertrauen, das erforderlich ist, damit sie funktionieren“, schrieb Bitcoins nur unter einem Pseudonym bekannter Schöpfer Satoshi Nakamoto 2009. „E-Währungen auf Basis kryptografischer Beweise, die das Vertrauen in einen externen Mittler unnötig machen, können Geld sicher und Transaktionen mühelos machen.“ Nakamoto schwebte vor, dass kryptografische Nachweise, die an die Stelle menschlichen Vertrauens träten, ein völlig vertrauensunabhängiges Peer-to-Peer-Finanzsystem erschaffen würden.

Die grundlegende Blockchain-Technologie, die Bitcoins Schöpfer nutzte(n), baut elegant auf den von Pacioli gelegten Grundlagen auf. Man stelle sich vor, eine Buchung eines florentinischen Kaufmanns aus dem 15. Jahrhundert wäre verzögerungsfrei in den Büchern jedes anderen Händlers erschienen. Ein derartiges Distributed-Ledger-System schafft eine dreifache (oder faktisch infinite) Buchführung, die die Daten unveränderbar und unbestreitbar macht.

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Diese Funktionalität ist schon für sich allein transformativ, doch die Architektur der Blockchain-Netze verleiht diesen Superkräfte, die weit über die von Finanzanwendungen hinausreichen. Wie der Technologie-Unternehmer Chris Dixon bemerkt: „[E]s ist falsch, sich Blockchains als bloße Kassenbücher zur tabellarischen Anordnung von Zahlen zu denken. Blockchains sind keine Datenbanken; sie sind vollwertige Computer.“

Natürlich besteht eine der großen Ironien der Kryptobranche darin, dass eine auf dem Wunsch nach Stärkung des finanziellen Vertrauens beruhende Technologie so viel Misstrauen hervorgerufen hat. Doch während The Economist nicht unbedingt falsch lag, als der die Blockchain vor fast einem Jahrzehnt als Vertrauensmaschine bezeichnete, war diese Einschätzung womöglich unvollständig. Dank der Abwicklung von Billionen von Transaktionen ist der grundlegende Anspruch der Blockchain – dass sie den zuverlässigen Austausch von Werten erleichtert – längst unter Beweis gestellt. Auch wenn das kein Trost ist für diejenigen, die in den letzten Jahren während der Implosionen der Branche Geld verloren haben, spiegelten diese Episoden irrationalen Überschwang und altmodischen Betrug wieder und keine Fehler in den Distributed-Ledger-Protokollen.

Diese Versäumnisse waren ebenso vorhersehbar wie bedauernswert. Die Jubelstimmung in Bezug auf neue Technologien übertrifft häufig das Tempo ihrer Nutzbarkeit und führt zu Enttäuschungen. Selbst die vielversprechendsten Technologien kämpfen mit anfänglichen Designfehlern. KI-Chatbots können „halluzinieren“. Die Akkus von Elektroautos können bei extremer Kälte oder Hitze versagen. Neue Software weist häufig Programmierfehler auf. Und die Blockchain-Netze waren nicht komplett immun gegen Hacks und Leistungsprobleme. Doch sind sie dank ihrer kampferprobten Robustheit gut aufgestellt, um die Art und Weise zu verbessern, wie wir Gelder bewegen.

Was ist mit der Nützlichkeit? Diese Eigenschaft ist subjektiver. Offensichtlich laufen sammelbare Cartoon-Affen und reine Spekulationsgeschäfte nicht auf eine transformative, stärker inklusive Verbesserung des Weltfinanzsystems hinaus.

Zum Glück wird die Blockchain von verantwortungsbewussten Marktakteuren inzwischen für viele andere Dinge verwendet: für mobile, korruptionserschwerende humanitärer Hilfszahlungen an Flüchtlinge, zur Senkung der Kosten von wohltätigen Spenden, Überweisungen und grenzüberschreitenden Zahlungen um 80 %, zur Ausweitung des Zugriffs auf grundlegende Finanzdienstleistungen, als tragbaren Wertspeicher für Arbeitnehmer in Ländern mit hoher Inflation, zur Feststellung der Provenienz, um die „Creator Economy“ anzutreiben, zur großmaßstäblichen Überweisung von Geld mit derselben Leichtigkeit, Sicherheit und Geschwindigkeit, mit der das Internet Daten übermittelt, und zur Aufrüstung veralteter, in die 1970er Jahre zurückreichender Finanzschienen.

Obwohl sie noch in den Kinderschuhen stecken, haben diese Anwendungen unbestreitbar einen hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen. Das bringt uns zur dritten Frage: ob Blockchain-gestützte Finanzschienen sicher sind – was im Bereich der Finanzdienstleistungen so viel wie reguliert bedeutet. Können die Nutzer einheitliche hohe Standards weltweit erwarten? Noch nicht ganz, aber wir sind nah dran.

Dies ist eine weitere Ironie der Kryptowährungen. Was als libertäre Vision eines Code-basierten, physisch und logisch vom Staat unabhängigen Finanzsystems begann, kollidiert mit der Regulierungsrealität. Es wird zunehmend anerkannt, dass Blockchain-basierte Netze und Finanzanwendungen die traditionelle Finanzinfrastruktur weniger verdrängen als vielmehr modernisieren und demokratisieren. Das bedeutet die Arbeit mit Regulierung und Politik und nicht gegen sie.

Die gute Nachricht ist, dass 2024 größere Regulierungssicherheit bringen dürfte. Japan, Hongkong, Singapur und die Europäische Union haben alle starke Standards und Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher für dieses wachsende Ökosystem verabschiedet. Und der US-Kongress könnte in diesem Jahr folgen: mit von beiden Parteien gemeinsam eingebrachten Gesetze zu digitalen Vermögenswerten und Stablecoins, die illegale Finanzierung und die Fälschung digitaler Währungen deutlich erschweren könnten. Dies würde in Bezug auf das öffentliche Vertrauen einen erheblichen Unterschied bewirken.

Ist die Blockchain eine Vertrauensmaschine? Das kommende Jahr könnte uns eine definitive Antwort geben.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/tNCIMChde