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Biden entsagt der Droge der Macht

NEW YORK: „Wir klammern uns an die Macht wie eine Laus an einen Kragen“, äußerte 1957 der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow (mein Urgroßvater). Um das zu verdeutlichen, fragte er sein Publikum aus schockierten Funktionären der Kommunistischen Partei, was das durchschnittliche Rentenalter sei. „Mitte Sechzig“, antwortete jemand. Der 63-jährige Chruschtschow scherzte, dass er sich diesem Alter nähere und als Rentner friedlich Tee trinken wolle, statt vom Kreml direkt ins Grab zu gehen. US-Präsident Joe Biden hat diese Botschaft offenbar verstanden.

Nun ist ein US-Präsident nicht dasselbe wie ein sowjetischer Diktator (zumindest bisher nicht). Chruschtschow agierte in einem autoritären System, in dem Machtwechsel typischerweise auf Beerdigungen folgten statt auf Wahlen. In Chruschtschows Fall war es ein Putsch, der letztlich den Wandel herbeiführte: Seine Kollegen stürzten ihn 1964, und zwar u. a., weil sie nicht die Macht verlieren wollten, falls er zurücktreten sollte.

Aber es ist schwierig, die Macht loszulassen, wenn nichts einen dazu zwingt. Das galt selbst für Chruschtschow, der derart von der Wichtigkeit des Machtwechsels so überzeugt war, dass er versuchte, Amtszeitbegrenzungen in der sowjetischen Verfassung zu verankern. Obwohl er geplant hatte, 1965 zurückzutreten, gab er im Ruhestand zu, dass er wahrscheinlich nicht den Mut gehabt hätte, es durchzuziehen, weil er Ziele hatte – die Öffnung der Grenzen der Sowjetunion, die Lockerung der Zensur, das Ende des Kalten Krieges –, die vermutlich keiner seiner möglichen Nachfolger verfolgt hätte.

Chruschtschows Ängste waren durchaus nicht unbegründet: Diese Veränderungen fanden erst 20 Jahre später während der Ära der Perestroika unter Michail Gorbatschow statt. Aber man muss sich fragen, ob Chruschtschow – der zum Zeitpunkt seines Sturzes 70 Jahre alt war und fast ein Jahrzehnt lang einem despotischen System vorgestanden hatte – den Willen gehabt hätte, diese Reformen weiter voranzutreiben, selbst wenn er an der Macht geblieben wäre.

Auch Biden fiel der Rückzug nicht leicht. Er stand nach seiner schwachen Leistung in einer Debatte mit dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump Ende Juni unter wachsendem Druck, seine Präsidentschaftskampagne wegen Bedenken hinsichtlich seines Alters und seiner geistigen Fitness auszusetzen. Doch er sträubte sich fast einen ganzen Monat lang.

Einige von Bidens Argumenten, warum er im Rennen bleiben sollte, sind nicht von der Hand zu weisen: Seine Regierungsbilanz der letzten dreieinhalb Jahre ist beeindruckend, und nur er hat Trump in einer Präsidentschaftswahl besiegt. Aber andere Argumente – etwa, dass er für die amerikanische Demokratie stehe (als ob andere Demokraten das nicht täten) – waren weit weniger stichhaltig. Vielleicht ist die Psychologie der Macht in Autokratien und Demokratien ähnlicher, als wir zugeben möchten: Wer an der Spitze steht, glaubt zunehmend, dass sein Weg der beste oder sogar der einzige sei.

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Absolute Macht korrumpiert absolut. Das war die Art Macht, die Chruschtschow innehatte, und sie korrumpierte ihn. Die Gefahr derartiger Korruption ist in einer Demokratie weniger akut – nicht nur dank formaler Machtbeschränkungen wie Wahlen und Amtszeitbegrenzungen, sondern auch aufgrund der zentralen Rolle der Überredung, Zusammenarbeit und Konsultation mit Verbündeten und Kollegen. Aber es erfordert immer noch eine enorme Willenskraft, die Macht freiwillig abzugeben.

Daher sollte man Biden dafür lobten, dass er aus dem Präsidentschaftsrennen ausgestiegen ist und seine Vizepräsidentin Kamala Harris als Kandidatin der Demokratischen Partei vorgeschlagen hat. Es ist ein Zeichen von Stärke, Einschränkungen zuzugeben, auf die Vernunft zu hören und den Willen der Mehrheit anzuerkennen.

Dies ist etwas, das die Kremlpropagandisten – die Bidens Entscheidung als Zeichen der Schwäche darstellen, während sie wiederholt die republikanischen Forderungen herausstreichen, dass er sofort auch als Präsident zurücktreten sollte – nicht verstehen. Ihr „furchtloser Führer“ Wladimir Putin, der Russland seit einem Vierteljahrhundert regiert, würde sich derartigem Druck niemals beugen.

Als Putin 2012 mit Massenprotesten konfrontiert war, weil er sich für eine dritte Amtszeit als Präsident entschieden hatte, nachdem er vier Jahre als Premierminister gedient hatte, stand er unter intensivem Druck, zurückzutreten (zumindest wurde mir das damals von Kreml-Insidern erzählt). Aber Putin war entschlossen, seinen Ruf als „Macho-Mann“ aufrechtzuerhalten, und weigerte sich, nachzugeben. Seitdem ist er Jahr für Jahr autoritärer geworden.

Putins hartnäckige Weigerung, Kurs zu ändern, zeigt sich auch in der Ukraine. Nachdem klar wurde, dass die groß angelegte Invasion vom Februar 2022 nicht zu einem schnellen Sieg führen würde, erhöhte er den Einsatz, machte nukleare Drohungen und annektierte vier teilweise besetzte Regionen der Ukraine (Donezk, Cherson, Luhansk und Saporischschja).

Die Ironie dabei ist, dass Putin ursprünglich nicht plante, lange an der Macht zu bleiben. Er sollte einfach das Erbe seines Vorgängers Boris Jelzin konsolidieren und dann auf einen bequemen Job als Gazprom-Manager wechseln. Aber wie der sowjetische Kernphysiker und 1975 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Menschenrechtsaktivist Andrei Sacharow angeblich wiederholt äußerte, ist der Kuss der Kremlmacht tödlich. Wenn er Chruschtschow, der wirklich an den Machtwechsel glaubte, korrumpieren konnte, war praktisch garantiert, dass er Putin, einen ehemaligen KGB-Chef, infizieren würde.

„Die Jungen werden Papiere sogar noch besser unterschreiben als wir Alten“, witzelte Chruschtschow einmal, „und sie werden uns nicht verzeihen, wenn wir nicht zurücktreten.“ Aber solange Putin die Kontrolle behält, wird er keine Verzeihung von irgendwem brauchen. Also zum Teufel mit den Jungen. Zum Teufel mit allen Russen. Zum Teufel mit Bildung, Wirtschaft, kulturellem und wissenschaftlichem Austausch und guten internationalen Beziehungen. Zum Teufel mit Russlands Zukunft.

Indem er zurücktrat, um einer jüngeren Kandidatin das Feld zu überlassen, hat Biden Amerikas Interessen über seinen eigenen Führungsdrang gestellt. Die Entscheidung spiegelt eine Demut wider, die deutlich eher bei demokratischen als bei autoritären Politikern zu finden ist. Aber wie Trump – u. a. mit seinen Bemühungen, die Wahl 2020 zu kippen, und seinem Versprechen, „am ersten Tag“ Diktator zu sein – gezeigt hat, ist derartige Demut niemals garantiert.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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