zizek19_Carsten KoallGetty Images_jewish and anti-semitism Carsten Koall/Getty Images

Antisemitismus und Intersektionalität

LJUBLJANA: Am 14. Mai 2023 hielt die European Jewish Association (EJA) ihre Jahrestagung in Porto (Portugal) ab. Sie verabschiedete dort eine Resolution, die forderte, Antisemitismus „gesondert von anderen Formen von Hass und Diskriminierung zu behandeln“. Die EJA drängt „andere jüdische Organisationen, ‚Intersektionalität‘ abzulehnen“. Der Begriff bezeichnet einen konzeptionellen Rahmen, der dazu neigt, Gruppen als entweder „privilegiert“ oder „unterdrückt“ einzustufen. Laut EJA „ist der Antisemitismus etwas Einzigartiges und muss als Solches behandelt werden“, weil er „in vielen Ländern staatlich sanktioniert ist“, „von den Vereinten Nationen Deckung erhält“ und von anderen vom Hass betroffenen Gruppen nicht immer als Form von Rassismus betrachtet wird.

Doch warum sind Intersektionalität und die klassifikatorische Abgrenzung zwischen Privilegierten und Unterdrückten vom jüdischen Standpunkt her problematisch? Im Großen und Ganzen ist die Intersektionalität ein nützliches Konzept im Bereich der Gesellschaftstheorie und praktischen Analyse. Wenn wir bestimmte Einzelpersonen oder Gruppen betrachten, stellen wir fest, dass deren Erfahrungen von Unterdrückung oder Privilegiertheit ein breites Spektrum unterschiedlicher Faktoren widerspiegeln.

Um schamlos die [hier übersetzte] Definition aus [der englischen] Wikipedia zu zitieren:

Intersektionalität ist ein analytischer Rahmen, um zu verstehen, wie die unterschiedlichen sozialen und politischen Identitäten einer Person bei der Schaffung verschiedener Formen von Diskriminierung und Privilegiertheit zusammenwirken. Intersektionalität identifiziert eine Vielzahl von vorteiligen und nachteiligen Faktoren. Beispiele für derartige Faktoren sind soziales Geschlecht, Kaste, biologisches Geschlecht, Ethnizität, Gesellschaftsschicht, Religion, Bildung, Vermögen, Behinderungen, Gewicht, Alter und körperliches Aussehen. Diese sich überschneidenden und überlagernden sozialen Identitäten können sowohl ermächtigend als auch unterdrückend sein.“

Der zentrale Punkt ist laut Anne Sisson Runyan von der Universität Cincinnati, „dass Formen der Unterdrückung einander nicht bloß addieren, so als wären sie völlig voneinander getrennte Beherrschungsebenen. Vielmehr erleben farbige Frauen tatsächlich eine andere Form des Rassismus als farbige Männer und eine andere Form des Sexismus als weiße Frauen.“

In gleicher Weise verbindet die antisemitische Vorstellung vom „Juden“ Merkmale von Religion, Ethnizität, Sexualität, Bildung, Vermögen und körperlichem Aussehen. Als jüdisch stigmatisiert zu werden schließt eine Zuschreibung verschiedener anderer Merkmale, wie Unsauberkeit, dogmatische Einhaltung religiöser Regeln, ruchlose Finanzspekulationen und verborgenen globalen Einfluss, ein, die in der Nazipropaganda sämtlich eine hervorgehobene Rolle spielten. Das Fazit der intersektionalen Analyse ist, dass jeder Einzelne einzigartige Formen der Unterdrückung oder Privilegiertheit erlebt, die auf der Zusammensetzung seiner Identität beruhen. Man denke an eine einkommensschwache schwarze lesbische Frau; sie ist fast überall auf der Welt einem vierfachen Nachteil ausgesetzt.

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Warum also lehnen jene, die auf der Einzigartigkeit des Antisemitismus beharren, die Intersektionalität ab? Die Unterdrückung, die Juden heute in entwickelten westlichen Ländern erfahren, ist etwas verschwommenerer Art, weil Juden zugleich (wirtschaftlich, kulturell usw.) tendenziell privilegierte Positionen einnehmen, und die Verknüpfung der Juden mit Reichtum und Kultur (z. B. die Einstufung von „Hollywood“ als jüdisch) in der öffentlichen Vorstellung ist selbst eine Quelle klassischer antisemitischer Tropen. Die EJA sorgt sich, dass diese Kombination aus Unterdrückung und Privilegiertheit den Antisemitismus relativiert und zu lediglich einer Form von Rassenhass unter vielen macht, die nicht nur mit diesen vergleichbar ist, sondern im Vergleich zu anderen Formen der Unterdrückung sogar weniger schwerwiegend. Die EJA fürchtet, dass der Blick durch die intersektionale Brille den Hass auf „den Juden“ bloß zu einem minderschweren Fall innerhalb der umfassenderen Taxonomie von Hassformen macht.

Ist diese Furcht gerechtfertigt?

Die EJA beharrt zu Recht darauf, dass am Antisemitismus etwas Außergewöhnliches ist. Er ist nicht wie andere Arten von Rassismus: Sein Ziel besteht nicht in der Unterwerfung der Juden, sondern in ihrer Ausrottung. Der Antisemit betrachtet sie nicht als unter ihm stehende Ausländer, sondern als heimliche Herren. Der Holocaust ist nicht dasselbe wie die kolonialgeschichtliche Zerstörung von anderer Zivilisationen; er ist ein einzigartiges Phänomen industriell organisierter Vernichtung.

Doch ist es gerade die Verknüpfung von „Unterdrückung“ und „Privilegiertheit“, die den Schlüssel zum Verständnis des Antisemitismus zumindest in seiner modernen Form bietet. Im Faschismus diente „der Jude“ als Eindringling von außen, dem man die Schuld für Korruption, Chaos und Ausbeutung zuschieben konnte. Den Konflikt zwischen „Unterdrückten“ und „Privilegierten“ auf einen Sündenbock zu projizieren kann die Aufmerksamkeit der Menschen von der Tatsache ablenken, dass derartige Konflikte tatsächlich per se Teil ihrer jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Ordnung sind. Dass viele Juden (von ihrem Vermögen, ihrer Bildung und ihrem politischen Einfluss her) „privilegiert“ sind, ist daher die wichtigste Ressource des Antisemitismus: Dass sie als privilegiert wahrgenommen werden macht die Juden zur Zielscheibe sozialen Hasses.

Problematisch wird es, wenn man versucht, den außergewöhnlichen Status des Antisemitismus zu nutzen, um Doppelmoral zu unterstützen oder jede kritische Analyse der Privilegien, die Juden durchschnittlich genießen, zu unterbinden. Ein 2020 im Spiegel erschienenes Streitgespräch über Antisemitismus und die Israel-Boykott-Bewegung BDS (Boykott, Desinvestition, Sanktionen) ist mit der Aussage überschrieben: „Wer Antisemit ist, bestimmt der Jude und nicht der potenzielle Antisemit“. Doch wenn dem so ist, sollte dann nicht der gleiche Grundsatz für die Palästinenser im Westjordanland gelten? Nur weil sie Palästinenser sind, werden sie ihres Landes und ihrer Grundrechte beraubt.

Aber nicht nur das: Die Haltung der EJA stützt sich auf ihren eigenen intersektionalen Rahmen. Jede Analyse der von einigen Juden eingenommenen privilegierten Positionen wird sofort als antisemitisch verurteilt, und selbst Kapitalismuskritik wird aus demselben Grund verworfen, was an der Verknüpfung zwischen „Judentum“ und „reichen Kapitalisten“ liegt. Die marxistische These, dass der Antisemitismus eine primitive, verzerrte Version der Ablehnung des Kapitalismus sei, wird damit in ihr Gegenteil verkehrt: Die Ablehnung des Kapitalismus wird zur Maske des Antisemitismus.

Wenn damit impliziert wird, dass das Judentum sowohl außergewöhnlich als auch untrennbar mit dem Kapitalismus verwoben ist, landen wir dann nicht bloß wieder bei einer uralten antisemitischen Trope? Provozieren wir damit die Armen und Unterdrückten nicht unmittelbar, für ihr unglückliches Schicksal den Juden die Schuld zu geben? Andere jüdische Organisationen sollten die Haltung der EJA ablehnen – nicht aufgrund irgendeiner obszönen Notwendigkeit der „Ausgewogenheit“ zwischen unterschiedlichen Formen des Rassismus, sondern um den Kampf gegen den Antisemitismus zu unterstützen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/9a4XCnRde