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Werden die Demokraten nach Bidens Rückzug gewinnen?

NEW YORK – US-Präsident Joe Bidens Entscheidung, als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei zurückzutreten, hat die amerikanische Politik verändert. In den Vereinigten Staaten geht damit ein historischer Juli zu Ende, der von weitreichenden Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs und dem versuchten Attentat auf den ehemaligen Präsidenten Donald Trump am Vorabend des Parteitags der Republikaner geprägt war.

Die von vielen Funktionären und Spendern der Demokratischen Partei geforderte und von einer großen Zahl an Wählern befürwortete Entscheidung Bidens war richtig. Nach einer Fernsehdebatte, die man weithin als Debakel für Biden empfand, hat es ihm sein Alter nahezu unmöglich gemacht, den Menschen in Amerika zu vermitteln, warum er weitere vier Jahre im Amt verdient hätte - und warum das für Trump nicht gelten sollte.

Noch ist es zu früh, über Bidens Vermächtnis zu schreiben, schon allein deshalb, weil seine Präsidentschaft noch etwa sechs Monate andauert. Mit seinem Rücktritt hat er jedoch schon einiges an Vorarbeit geleistet, um den potenziellen Vorwurf auszuräumen, wonach er durch seinen Verbleib im Rennen den Weg für einen Nachfolger ebnet, der wenig von Bidens Engagement für die amerikanische Demokratie und die Rolle des Landes in der Welt hält. Hätte Trump Biden - wie in den Umfragen vorhergesagt - im November tatsächlich besiegt, wären Bidens Verdienste als Präsident dadurch weitgehend in den Schatten gestellt worden.

Nun hat Vizepräsidentin Kamala Harris gute Chancen, Kandidatin der Demokraten zu werden. Bidens Unterstützung wird ihr helfen. Doch damit ist die Sache nicht erledigt, denn Biden ist nur befugt, ihm verpflichtete Parteidelegierte zu entbinden, nicht aber, sie zu verpflichten, jemand anderen zu unterstützen.

Daher wird es im August in Chicago zu einem offenen Parteitag kommen, und die vier Wochen bis dahin könnten entscheidend dazu beitragen, was dort geschieht. Durchaus möglich, dass Harris ohne Gegenkandidaten um die Nominierung kämpft, es kann aber auch sein, dass ein oder mehrere Herausforderer auftauchen. Sollte sie sich gegen andere Kandidaten durchsetzen, könnte das sogar zu ihrem Vorteil sein, denn der Nominierungsprozess würde ihre politischen Fähigkeiten weiter schärfen, ihr das Image einer Siegerin einbringen und es ihr ermöglichen, aus dem Schatten eines unpopulären Präsidenten herauszutreten.

Die Nominierung würde auch die Demokratische Partei in einer Zeit ins Rampenlicht rücken, in der sie sich bei den Wählern neu positionieren muss. Das ist von entscheidender Bedeutung, da Trump und der von ihm für das Amt des Vizepräsidenten vorgesehene Senator J.D. Vance sich als hervorragende Wahlkämpfer erweisen werden. Und selbst wenn Harris kandidieren und gegen das republikanische Duo verlieren sollte, würde sie laut Umfragen besser abschneiden als Biden, wodurch sich die Chancen der Demokraten verbessern würden, das Repräsentantenhaus zu gewinnen (die Kontrolle über den Senat zu behalten, scheint außer Reichweite zu sein) und damit zu verhindern, dass die gesamte Bundesregierung unter die Kontrolle der Republikaner gerät.

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Trump liegt in den Umfragen knapp vor Harris, wobei sie im nächsten Monat, wenn sie in das Rampenlicht rückt, durchaus Auftrieb erhalten könnte. Harris' Fähigkeiten in der Strafverfolgung, die sie als Staatsanwältin und später als Justizministerin Kaliforniens perfektionierte, würden ihr im Wahlkampf sehr zugute kommen. Sie ist bestens gerüstet, um sich mit der radikalen Anti-Abtreibungshaltung des Obersten Gerichtshofs und mit Vance auseinanderzusetzen. Und sie würde davon profitieren, dass auf dem republikanischen Ticket weder eine Frau noch einen Vertreter einer Minderheit aufscheint.

Eine unausweichliche Herausforderung besteht jedoch in einer Situation, die man als das Hubert-Humphrey-Dilemma bezeichnen könnte. Im Jahr 1968 gewann der damalige Vizepräsident Humphrey die Nominierung der Demokraten, nachdem der amtierende Präsident Lyndon Johnson nicht zur Wiederwahl angetreten war. Die Worte in Bidens Rücktrittsschreiben ähneln denen, die Johnson vor 56 Jahren gebrauchte, wobei der Hauptunterschied darin besteht, dass Biden seine Erklärung auf X veröffentlichte und Johnson im amerikanischen Fernsehen auftrat.

Das Dilemma präsentiert sich folgendermaßen: Wie gelingt es, loyal zu wirken und Anerkennung für populären Aspekte einer Präsidentschaft zu ernten, ohne sich mit den unbeliebten Maßnahmen der vorherigen Präsidentschaft zu belasten? Im Jahr 1968 war es der Vietnamkrieg, der Humphreys Kandidatur kompliziert gestaltete, da es ihm schwer fiel, sich einerseits von einer Politik zu distanzieren, mit der er in Verbindung gebracht worden war, und andererseits von einem Chef, der wenig Toleranz für Illoyalität zeigte.

Heute wird die öffentliche Debatte nicht mehr von einem einzigen Thema beherrscht, aber es besteht immer noch die Notwendigkeit, den Unterschied zwischen der demokratischen Kandidatin und Biden herauszuarbeiten, da Amtsinhaberschaft in einer Zeit, in der viele nach Veränderungen streben, zu einer Belastung geworden ist. Wer daran zweifelt, braucht sich nur die jüngsten Wahlergebnisse in Südafrika, Indien, dem Vereinigten Königreich und Frankreich anzusehen.

Das heißt, der Kandidat oder die Kandidatin der Demokraten, ob nun Harris oder jemand anderes, täte gut daran, den Inflation Reduction Act und den CHIPS and Science Act, die Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Verteidigung der Demokratie, den Zugang zu Abtreibung und Geburtenkontrolle sowie die Militärhilfe für die Ukraine zu befürworten. Gleichzeitig wäre es naheliegend, dass sich der Kandidat oder die Kandidatin möglicherweise von einer von vielen Amerikanern als zu israelfreundlich empfundenen Nahostpolitik sowie von einer von vielen als zu lasch empfundenen Grenz- und Kriminalitätspolitik distanzieren möchte.

Sollte Harris die Kandidatin der Demokraten werden, wird es von großer Bedeutung sein, wen sie als Vizepräsidentschaftskandidaten auswählt. Mehrere Staaten des Mittleren Westens werden bei der Wahl im November wahrscheinlich wahlentscheidend sein, weswegen es dort gilt, das große Reservoir an unabhängigen Wählern für sich zu gewinnen. Die Gouverneure Gretchen Whitmer (Michigan), Josh Shapiro (Pennsylvania), Andy Beshear (Kentucky) und Roy Cooper (North Carolina) kämen vermutlich ebenso in Frage wie mehrere Mitglieder aus Bidens Kabinett.

Gewiss ist wohl nur, dass nach Bidens verblüffender Ankündigung noch weniger Gewissheiten bestehen. Eines ist jedoch klar: Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen wird für die USA und den Rest der Welt von enormer Bedeutung sein. Normalerweise ist dies nicht der Fall, da die Gemeinsamkeiten der Kandidaten in der Regel größer sind als ihre Unterschiede. Nicht so dieses Mal. Die Unterschiede präsentieren sich so gravierend, dass gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wie viel bei der amerikanischen Präsidentenwahl im November auf dem Spiel steht.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

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