NEW YORK – Der kürzliche Tod von Norman Borlaug bietet eine passende Gelegenheit, um über grundlegende Werte und unser Wirtschaftssystem nachzudenken. Borlaug erhielt den Friedensnobelpreis für seine Arbeit an der „grünen Revolution“, die hunderte Millionen Menschen vor dem Hungertod rettete und weltweit die ökonomische Landschaft veränderte.
Vor der Zeit Borlaugs stand die Welt vor einem malthusianischem Albtraum: In den Entwicklungsländern wuchs die Bevölkerung bei gleichzeitig ungenügender Nahrungsmittelversorgung. Man denke an das Trauma, das ein Land wie Indien erlitten hätte, wenn seine fünfhundert Millionen Menschen umfassende Bevölkerung während ihrer Verdoppelung nur unzureichend ernährt worden wäre. Vor der grünen Revolution malte Ökonomie-Nobelpreisträger Gunnar Myrdal ein düsteres Zukunftsszenario eines in Armut gefangenen asiatischen Kontinents. Aber stattdessen wurde Asien zu einem Wirtschaftsmotor.
Afrikas begrüßenswerte neue Entschlossenheit, den Hunger zu bekämpfen, ist ebenfalls ein lebendiges Vermächtnis Borlaugs. Die grüne Revolution ist auf dem ärmsten Kontinent der Welt, wo die landwirtschaftliche Produktivität nur ein Drittel des asiatischen Wertes beträgt, nie angekommen. Dies weist auf großen Spielraum für Verbesserungen hin.
Natürlich könnte sich die grüne Revolution auch als vorübergehende Entspannung erweisen. Steil ansteigende Nahrungsmittelpreise vor Ausbruch der weltweiten Finanzkrise waren ebenso ein Warnsignal wie das sich verlangsamende Wachstum der landwirtschaftlichen Produktivität. So fiel beispielsweise der indische Agrarsektor hinter alle anderen Bereiche der dynamischen indischen Wirtschaft zurück. Aufgrund stark absinkender Grundwasserspiegel, auf die ein Großteil des Landes angewiesen ist, ist die Landwirtschaft dort höchst gefährdet.
Allerdings erinnert Borlaugs Tod im Alter von 95 Jahren auch daran, wie verzerrt unser Wertesystem geworden ist. Als Borlaug einst um vier Uhr früh die Nachricht vom Nobelpreis übermittelt bekam, war er in seinem endlosen Bemühen zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktivität bereits auf mexikanischen Feldern unterwegs. Er machte das nicht, weil es viel Geld dafür gab, sondern aus Überzeugung und Leidenschaft für seine Arbeit.
Welch ein Kontrast ergibt sich nun zwischen Borlaug und den Finanzjongleuren an der Wall Street, die die Welt an den Rand des Ruins führten. Sie argumentierten ja, dass sie üppig entlohnt werden müssten, um motiviert zu sein. In Ermangelung eines anderen Wertebarometers waren sie durch ihre Anreizstrukturen motiviert – aber nicht dazu, durch die Entwicklung neuer Produkte das Leben gewöhnlicher Menschen zu verbessern oder durch Hilfestellungen jene Risiken zu bewältigen, mit denen die Menschen konfrontiert waren. Die Banker waren vielmehr motiviert, die Weltwirtschaft durch kurzsichtiges, gieriges Verhalten zu gefährden. Ihre Innovationen konzentrierten sich auf die Umgehung von Regulierungen im Buchhaltungs- und Finanzbereich, die eigentlich dazu gedacht waren, Transparenz, Effizienz und Stabilität sicherzustellen und die Ausbeutung der weniger gut Informierten zu verhindern.
In diesem Kontrast steckt aber auch noch eine tiefere Erkenntnis: Unsere Gesellschaften tolerieren Ungleichheiten, weil sie als sozial nützlich betrachtet werden. Sie sind der Preis, den wir für Anreize bezahlen, die Menschen motiviert, auf eine bestimmte Art zu handeln, die das Wohlergehen der Gesellschaft fördert. Die neoklassische Wirtschaftstheorie, die im Westen ein Jahrhundert lang vorherrschte, besagt, dass die Entlohnung des Einzelnen seinen sozialen Grenzbeitrag widerspiegelt – was er also der Gesellschaft bringt. Geht es den Menschen gut, so das Argument, tun sie Gutes.
Borlaug und die Banker allerdings widerlegen diese Theorie. Denn stimmte diese neoklassische Theorie, wäre Borlaug einer der reichsten Männer der Welt gewesen, während sich die Banker vor Suppenküchen anstellen müssten.
Natürlich enthält die neoklassische Theorie ein Körnchen Wahrheit. Wenn dem nicht so wäre, hätte sie wohl nicht so lange überlebt (obwohl schlechte Ideen in der Ökonomie oft bemerkenswert lange überleben). Gleichwohl sind die simplifizierenden Wirtschaftstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts, als die neoklassische Theorie entstand, für die Ökonomie des 21. Jahrhunderts völlig ungeeignet. In großen Unternehmen ist es oft schwierig, den Beitrag des Einzelnen zu bestimmen. In solchen Unternehmen gibt es jede Menge „Vertretungsprobleme“: Während von den Entscheidungsträgern (Direktoren) erwartet wird, dass sie im Namen ihrer Aktionäre handeln, gewährt man ihnen auch enorme Ermessensfreiheit zur Förderung ihrer eigenen Interessen – die sie oftmals auch in Anspruch nehmen.
Die Banker mögen sich die Taschen mit hunderten Millionen Dollar voll gestopft haben, aber alle anderen in unserer Gesellschaft – Aktionäre, Anleihenbesitzer, Steuerzahler, Hausbesitzer und Arbeiter – haben gelitten. Bei deren Investoren handelt es sich allzu oft um Rentenfonds, die ebenfalls ein Vertretungsproblem haben, weil die Direktoren Entscheidungen im Namen anderer treffen. In einer derartigen Welt klaffen private und soziale Interessen oftmals auseinander, wie wir es in dieser Krise so dramatisch vor Augen geführt bekamen.
Glaubt denn wirklich irgendwer, dass die amerikanischen Banker in Relation zu allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft plötzlich um so vieles produktiver geworden sind, dass sie eine derartig immense Steigerung ihrer Gehälter verdient hätten, wie dies in den letzten Jahren der Fall war? Glaubt denn wirklich irgendwer, dass die amerikanischen Firmenchefs um so viel produktiver wären, als ihre Kollegen in anderen Ländern, deren Entlohnung etwas bescheidender ausfällt?
Erschwerend kommt hinzu, dass Aktienoptionen in Amerika eine bevorzugte Form der Entlohnung wurden – die oftmals höher ist als das Grundgehalt einer Führungskraft. Aktienoptionen vergüten die Manager auch blendend, wenn die Aktien aufgrund einer Preisblase steigen und auch dann noch, wenn vergleichbare Unternehmensaktien besser abschneiden. Es kommt daher nicht überraschend, dass Aktienoptionen starke Anreize für kurzsichtiges und übermäßig riskantes Verhalten schaffen sowie auch für „kreative Buchhaltung“, die von Managern in der gesamten Wirtschaft durch außerbilanzielle Tricks perfektioniert wurde.
Diese falschen Anreize verzerrten unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Wir verwechselten Zwecke mit Zielen. Unser aufgeblähter Finanzsektor wuchs bis zu dem Punkt, an dem er in den USA für über 40 Prozent der Unternehmensgewinne verantwortlich war.
Am schlimmsten wirkte sich dies jedoch auf unsere wertvollste Ressource, das Humankapital, aus. Die absurd hohen Gehälter am Finanzsektor verleiteten manche der intelligentesten Köpfe, in das Bankgeschäft zu gehen. Wer weiß, wie viele Borlaugs unter denjenigen gewesen wären, die sich von den Reichtümern der Wall Street und der Londoner City verlocken ließen. Hätten wir davon einen verloren, wäre unsere Welt dadurch unermesslich ärmer geworden.
NEW YORK – Der kürzliche Tod von Norman Borlaug bietet eine passende Gelegenheit, um über grundlegende Werte und unser Wirtschaftssystem nachzudenken. Borlaug erhielt den Friedensnobelpreis für seine Arbeit an der „grünen Revolution“, die hunderte Millionen Menschen vor dem Hungertod rettete und weltweit die ökonomische Landschaft veränderte.
Vor der Zeit Borlaugs stand die Welt vor einem malthusianischem Albtraum: In den Entwicklungsländern wuchs die Bevölkerung bei gleichzeitig ungenügender Nahrungsmittelversorgung. Man denke an das Trauma, das ein Land wie Indien erlitten hätte, wenn seine fünfhundert Millionen Menschen umfassende Bevölkerung während ihrer Verdoppelung nur unzureichend ernährt worden wäre. Vor der grünen Revolution malte Ökonomie-Nobelpreisträger Gunnar Myrdal ein düsteres Zukunftsszenario eines in Armut gefangenen asiatischen Kontinents. Aber stattdessen wurde Asien zu einem Wirtschaftsmotor.
Afrikas begrüßenswerte neue Entschlossenheit, den Hunger zu bekämpfen, ist ebenfalls ein lebendiges Vermächtnis Borlaugs. Die grüne Revolution ist auf dem ärmsten Kontinent der Welt, wo die landwirtschaftliche Produktivität nur ein Drittel des asiatischen Wertes beträgt, nie angekommen. Dies weist auf großen Spielraum für Verbesserungen hin.
Natürlich könnte sich die grüne Revolution auch als vorübergehende Entspannung erweisen. Steil ansteigende Nahrungsmittelpreise vor Ausbruch der weltweiten Finanzkrise waren ebenso ein Warnsignal wie das sich verlangsamende Wachstum der landwirtschaftlichen Produktivität. So fiel beispielsweise der indische Agrarsektor hinter alle anderen Bereiche der dynamischen indischen Wirtschaft zurück. Aufgrund stark absinkender Grundwasserspiegel, auf die ein Großteil des Landes angewiesen ist, ist die Landwirtschaft dort höchst gefährdet.
Allerdings erinnert Borlaugs Tod im Alter von 95 Jahren auch daran, wie verzerrt unser Wertesystem geworden ist. Als Borlaug einst um vier Uhr früh die Nachricht vom Nobelpreis übermittelt bekam, war er in seinem endlosen Bemühen zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktivität bereits auf mexikanischen Feldern unterwegs. Er machte das nicht, weil es viel Geld dafür gab, sondern aus Überzeugung und Leidenschaft für seine Arbeit.
Welch ein Kontrast ergibt sich nun zwischen Borlaug und den Finanzjongleuren an der Wall Street, die die Welt an den Rand des Ruins führten. Sie argumentierten ja, dass sie üppig entlohnt werden müssten, um motiviert zu sein. In Ermangelung eines anderen Wertebarometers waren sie durch ihre Anreizstrukturen motiviert – aber nicht dazu, durch die Entwicklung neuer Produkte das Leben gewöhnlicher Menschen zu verbessern oder durch Hilfestellungen jene Risiken zu bewältigen, mit denen die Menschen konfrontiert waren. Die Banker waren vielmehr motiviert, die Weltwirtschaft durch kurzsichtiges, gieriges Verhalten zu gefährden. Ihre Innovationen konzentrierten sich auf die Umgehung von Regulierungen im Buchhaltungs- und Finanzbereich, die eigentlich dazu gedacht waren, Transparenz, Effizienz und Stabilität sicherzustellen und die Ausbeutung der weniger gut Informierten zu verhindern.
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In diesem Kontrast steckt aber auch noch eine tiefere Erkenntnis: Unsere Gesellschaften tolerieren Ungleichheiten, weil sie als sozial nützlich betrachtet werden. Sie sind der Preis, den wir für Anreize bezahlen, die Menschen motiviert, auf eine bestimmte Art zu handeln, die das Wohlergehen der Gesellschaft fördert. Die neoklassische Wirtschaftstheorie, die im Westen ein Jahrhundert lang vorherrschte, besagt, dass die Entlohnung des Einzelnen seinen sozialen Grenzbeitrag widerspiegelt – was er also der Gesellschaft bringt. Geht es den Menschen gut, so das Argument, tun sie Gutes.
Borlaug und die Banker allerdings widerlegen diese Theorie. Denn stimmte diese neoklassische Theorie, wäre Borlaug einer der reichsten Männer der Welt gewesen, während sich die Banker vor Suppenküchen anstellen müssten.
Natürlich enthält die neoklassische Theorie ein Körnchen Wahrheit. Wenn dem nicht so wäre, hätte sie wohl nicht so lange überlebt (obwohl schlechte Ideen in der Ökonomie oft bemerkenswert lange überleben). Gleichwohl sind die simplifizierenden Wirtschaftstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts, als die neoklassische Theorie entstand, für die Ökonomie des 21. Jahrhunderts völlig ungeeignet. In großen Unternehmen ist es oft schwierig, den Beitrag des Einzelnen zu bestimmen. In solchen Unternehmen gibt es jede Menge „Vertretungsprobleme“: Während von den Entscheidungsträgern (Direktoren) erwartet wird, dass sie im Namen ihrer Aktionäre handeln, gewährt man ihnen auch enorme Ermessensfreiheit zur Förderung ihrer eigenen Interessen – die sie oftmals auch in Anspruch nehmen.
Die Banker mögen sich die Taschen mit hunderten Millionen Dollar voll gestopft haben, aber alle anderen in unserer Gesellschaft – Aktionäre, Anleihenbesitzer, Steuerzahler, Hausbesitzer und Arbeiter – haben gelitten. Bei deren Investoren handelt es sich allzu oft um Rentenfonds, die ebenfalls ein Vertretungsproblem haben, weil die Direktoren Entscheidungen im Namen anderer treffen. In einer derartigen Welt klaffen private und soziale Interessen oftmals auseinander, wie wir es in dieser Krise so dramatisch vor Augen geführt bekamen.
Glaubt denn wirklich irgendwer, dass die amerikanischen Banker in Relation zu allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft plötzlich um so vieles produktiver geworden sind, dass sie eine derartig immense Steigerung ihrer Gehälter verdient hätten, wie dies in den letzten Jahren der Fall war? Glaubt denn wirklich irgendwer, dass die amerikanischen Firmenchefs um so viel produktiver wären, als ihre Kollegen in anderen Ländern, deren Entlohnung etwas bescheidender ausfällt?
Erschwerend kommt hinzu, dass Aktienoptionen in Amerika eine bevorzugte Form der Entlohnung wurden – die oftmals höher ist als das Grundgehalt einer Führungskraft. Aktienoptionen vergüten die Manager auch blendend, wenn die Aktien aufgrund einer Preisblase steigen und auch dann noch, wenn vergleichbare Unternehmensaktien besser abschneiden. Es kommt daher nicht überraschend, dass Aktienoptionen starke Anreize für kurzsichtiges und übermäßig riskantes Verhalten schaffen sowie auch für „kreative Buchhaltung“, die von Managern in der gesamten Wirtschaft durch außerbilanzielle Tricks perfektioniert wurde.
Diese falschen Anreize verzerrten unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Wir verwechselten Zwecke mit Zielen. Unser aufgeblähter Finanzsektor wuchs bis zu dem Punkt, an dem er in den USA für über 40 Prozent der Unternehmensgewinne verantwortlich war.
Am schlimmsten wirkte sich dies jedoch auf unsere wertvollste Ressource, das Humankapital, aus. Die absurd hohen Gehälter am Finanzsektor verleiteten manche der intelligentesten Köpfe, in das Bankgeschäft zu gehen. Wer weiß, wie viele Borlaugs unter denjenigen gewesen wären, die sich von den Reichtümern der Wall Street und der Londoner City verlocken ließen. Hätten wir davon einen verloren, wäre unsere Welt dadurch unermesslich ärmer geworden.