d26e5a0346f86f100fe1db01_pa2986c.jpg Paul Lachine

Der Mythos des autoritären Wachstums

CAMBRIDGE – Vor kurzem versammelten sich einige Hundert demokratische Aktivisten auf einem Platz in Moskau, um gegen die Einschränkung des Versammlungsrechts seitens der Regierung zu protestieren. Sie hielten Schilder mit der Aufschrift „31“ hoch, in Anspielung auf Artikel 31 der russischen Verfassung, der die Versammlungsfreiheit garantiert. Sie wurden prompt von Polizisten umstellt, die versuchten, die Demonstration aufzulösen. Ein führender Kritiker des Kremlin und einige andere Demonstranten wurden schnell in einen Polizeiwagen gezerrt und weggefahren.

Ereignisse wie dieses geschehen fast täglich in Russland, wo Premierminister Wladimir Putin das Land mit starker Hand regiert und die Verfolgung der Opposition, Verletzung der Menschenrechte und Justizmissbrauch zur Tagesordnung gehören. In einer Zeit, in der Demokratie und Menschenrechte globale Standards geworden sind, tragen Übertretungen dieser Art wenig dazu bei, den Ruf Russlands in der Welt zu verbessern. Politiker mit einem autoritären Führungsstil wie Putin wissen dies, sind aber offenbar willens, den Preis zu bezahlen, um Zuhause uneingeschränkte Macht ausüben zu können.

Was Staatslenker wie Putin weniger gut verstehen, ist, dass ihre Politik die wirtschaftliche Zukunft ihres Landes und die Weltwirtschaft beeinträchtigt.

Das Verhältnis zwischen der Politik einer Nation und ihren wirtschaftlichen Aussichten ist einer der grundlegendsten – und am meisten erforschten – Gegenstände der gesamten Sozialwissenschaft. Was ist besser für wirtschaftliches Wachstum? Eine starke Hand, die frei ist von dem Druck politischen Wettbewerbs, oder die Vielfalt miteinander in Wettbewerb stehender Interessen, die eine Öffnung hin zu neuen Ideen und neue politische Akteure hervorbringen?

Beispiele aus Ostasien (Südkorea, Taiwan, China) scheinen die erste Variante nahezulegen. Aber wie erklärt sich dann, dass fast alle wohlhabenden Länder – außer denjenigen, die ihren Reichtum nur natürlichen Ressourcen verdanken –, Demokratien sind? Sollte die politische Öffnung dem Wirtschaftswachstum vorausgehen anstatt ihm zu folgen?

Wenn wir uns keine Einzelfälle, sondern systematische historische Quellen anschauen, sehen wir, dass eine autoritäre Staatsführung kein wirtschaftliches Wachstum beschert. Für jedes autoritär geführtes Land, das schnell gewachsen ist, sind viele andere gescheitert. Für jeden Lee Kuan Yew aus Singapur gibt es viele wie Mobutu Sese Seko aus dem Kongo.

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Demokratien leisten nicht nur wesentlich mehr als Diktaturen, wenn es um langfristiges Wirtschaftswachstum geht, sondern auch in Bezug auf viele andere wichtige Bereiche. Sie gewähren eine größere wirtschaftliche Stabilität, gemessen am Auf und Ab der Konjunktur. Sie stellen sich schneller auf ökonomische Erschütterungen ein (wie Verfall der Geschäftsbedingungen oder plötzliches Ausbleiben von Kapitalzuflüssen). Sie erzeugen mehr Investition in Humankapital – Gesundheit und Bildung. Und sie schaffen gerechter Gesellschaften.

Autoritäre Regimes erzeugen letztendlich Ökonomien, die so brüchig sind wie ihre politischen Systeme. Ihre Wirtschaftsmacht, sofern existent, beruht auf der Stärke der einzelnen Führungspersönlichkeiten oder auf günstigen aber vorübergehenden Umständen. Andauernde wirtschaftliche Innovation oder globale wirtschaftliche Führungspositionen können sie nicht anstreben.

Auf den ersten Blick scheint China eine Ausnahme zu sein. Seit den späten 70ern, nach dem Ende von Maos verheerenden Experimenten, ist China außerordentlich erfolgreich, mit nie da gewesenen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Auch wenn es einige lokale Entscheidungsmechanismen demokratisiert hat, behält die chinesische kommunistische Partei doch die nationale Politik fest im Griff, die Menschenrechtsbilanz ist getrübt durch vielfältige Verletzungen.

Aber China ist auch weiterhin insgesamt ein relativ armes Land. Sein wirtschaftlicher Fortschritt in der Zukunft hängt in nicht unbeträchtlichem Maß davon ab, ob das Land es schafft, sein politisches System dem Wettbewerb zu öffnen, genauso, wie es seine Wirtschaft geöffnet hat. Ohne diesen Wandel wird das Fehlen institutionalisierter Mechanismen für die Äußerung und Organisation von abweichenden Meinungen letztendlich zu Konflikten führen, die das Regime nicht wird unterdrücken können. Politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum werden dann darunter leiden.

Trotzdem, Russland und China sind noch große und mächtige Ökonomien. Ihr Beispiel kann andere Autokraten zu der Annahme verleiten, sie könnten einen wirtschaftlichen Aufschwung anstreben und gleichzeitig bei der innenpolitischen Opposition die Daumenschrauben ansetzen.

Nehmen wir die Türkei, eine aufstrebende Wirtschaftsmacht im Nahen Osten, die bis vor kurzem dazu verdammt schien, die einzige islamische Demokratie der Region zu werden. In seiner ersten Amtszeit hat Premierminister Recep Tayyip Erdogan einige Einschränkungen der kurdischen Minderheiten gelockert und Reformen eingeleitet, die die Rechtsordnung des Landes an europäische Normen angleichen sollten.

Aber vor kurzem haben Erdogan und seine Verbündeten eine nur dünn verschleierte Kampagne gestartet, um ihre Gegner einzuschüchtern und die Kontrolle der Regierung über Medien und öffentliche Institutionen zu zementieren. Sie haben Hunderte Offiziere der Armee, Akademiker und Journalisten mit der fadenscheinigen Anklage inhaftiert, terroristische Vereinigungen und die Verschwörung zum Staatsstreich zu unterstützen. Die Bespitzelung und Schikanierung von Erdogans Kritikern ist so weit verbreitet, dass einige bereits von einer „Republik der Angst“ sprechen.

Diese Wende in Richtung Autokratie ist ein schlechtes Omen für die türkische Wirtschaft, trotz ihrer starken Fundamente. Sie wird die Qualität der politischen Führung zerfressen und den Anspruch der Türkei, zu den globalen Akteuren zu gehören, untergraben.

Die wahren wirtschaftlichen Supermächte der Zukunft finden wir stattdessen in Ländern wie Brasilien, Indien oder Südafrika, die ihren Wandel hin zur Demokratie vollzogen haben und ihn wohl auch nicht mehr rückgängig machen werden. Natürlich ist keines dieser Länder ohne Probleme. Brasilien muss seine Wirtschaftsdynamik noch ganz wiederherstellen und einen Weg zu schnellem Wachstum finden. Der Widerstand der indischen Demokratie gegen wirtschaftliche Veränderungen ist nicht immer nachvollziehbar. Und Südafrika leidet unter einer dramatisch hohen Arbeitslosigkeit.

Aber diese Herausforderungen sind nichts im Vergleich zu den monumentalen Aufgaben, die vor autokratischen Ländern liegen, die ihre Institutionen reformieren wollen. Wir sollten uns nicht wundern, wenn die Türkei von Brasilien nur noch eine Staubwolke sieht, wenn Südafrika Russland überholt und Indien China.

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