Warum sind Juden erfolgreich?

WASHINGTON, DC – In den vergangenen Jahrzehnten haben Wirtschaftswissenschaftler versucht, den Begriff Humankapital zu verwenden, der oft als die Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnisse und Veranlagungen definiert wird, die wirtschaftlichen Erfolg ausmachen.Doch diejenigen, die den Begriff verwenden, nehmen häufig an, dass die begriffliche Erfassung eines Phänomens ein erster Schritt zu seiner Manipulierung ist.Und tatsächlich ist die „Humankapitalpolitik“ derzeit stark in Mode.Doch was wäre, wenn viele der betreffenden Fähigkeiten und Veranlagungen eine Folge der Geschichte sind und verstanden und erklärt werden können, aber nicht einfach nachgeahmt?

Simon Kuznets, einer der großen Wirtschaftswissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts war ein Pionier der Humankapitaltheorie.Nicht lange vor seinem Tod empfahl Kuznets einem jungen Kollegen, man sollte die Rolle der Juden im Wirtschaftsleben untersuchen.

Im Großen und Ganzen haben Ökonomen und andere Gesellschaftswissenschaftler die Geschichte der Juden und des Kapitalismus vernachlässigt, aus Gründen, die verständlich, aber nicht überzeugend sind.Für die meisten Wirtschaftswissenschaftler ist der Umfang, in dem der moderne Kapitalismus von früheren kulturellen Voraussetzungen geformt wurde, bestenfalls ein Grund für Verwirrung, wenn nicht bloß ein zu vernachlässigender Faktor.

Solche kulturellen Überlegungen passen einfach nicht in die Kategorien, in denen auf Gleichungen fixierte Wirtschaftswissenschaftler zu denken neigen.Wenn Wirtschaftswissenschaftler das „Humankapital“ untersuchen, ziehen sie messbare Kriterien wie Schuljahre vor.In dem Maße, wie das Humankapital Charakterzüge und verschiedene Arten von „Know-how“ umfasst, die innerhalb der Familie und des Umfelds übertragen werden, anstatt durch formale Bildung, wird es sowohl methodologisch schwer zu fassen als auch mit Politik schwer zu beeinflussen.

Ein Blick auf die historische Erfahrung der Juden zeigt: Obwohl die meisten Juden Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Armut lebten, waren sie im Laufe der Zeit in Gesellschaften, die es ihnen ermöglichten, gleichberechtigt am Wettbewerb teilzunehmen, in der Tendenz überproportional erfolgreich.Dies war zuerst in Mittel- und Westeuropa der Fall und dann in den Vereinigten Staaten.

Besonders erfolgreich waren sie im Handel.Auf der Suche nach wirtschaftlichen Nischen, die nicht bereits von anderen besetzt waren, schufen Juden häufig Märkte für neue Produkte und Dienstleistungen.Sie waren Pioniere für neue Geschäfte, von Kaufhäusern bis hin zu Abholmärkten.

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Die am schnellsten wachsenden Wirtschaftssektoren des späten neunzehnten Jahrhunderts waren die, die grob als „Dienstleistungsgewerbe“ klassifiziert werden und häufig mit der Verbreitung von Informationen und Unterhaltung zu tun haben – Tätigkeiten, in denen Juden sich besonders hervorgetan haben, vom Verlagswesen bis hin zum Varieté und vom Filmgeschäft bis hin zum kommerziellen Sport.Zudem schnitten sie oft unverhältnismäßig gut in gelehrten Berufen ab, wie Medizin, Jura und Buchführung, die für die moderne kapitalistische Gesellschaft wesentlich sind.

Die Tatsache, dass Juden lange Zeit eine diskriminierte Minderheit waren, wird manchmal als Grund für ihre Tendenz angeführt, sich dem Handel, dem Finanzwesen und selbständigen Tätigkeiten zu widmen.Dennoch sind nicht unbedingt alle lange diskriminierten Minderheiten unter den Bedingungen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs erfolgreich.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, das unverhältnismäßig gute Abschneiden von Juden zu erklären.Zum einen hatten Juden mehr Erfahrung im Handel als die meisten anderen Gruppen, und das stillschweigende Wissen vom Kaufen, Verkaufen und Berechnen von Vorteilen, das in Familien mit Verbindungen zur Geschäftswelt weitergegeben wurde, erklärt unter anderem, warum Juden in der Regel darin besser waren.

Zum anderen waren Juden in großen Teilen Europas lange weitgehend von der alteingesessenen, auf Grundbesitz beruhenden Wirtschaft ausgeschlossen worden sowie aus vielen anderen Bereichen, die den Christen vorbehalten waren.So lernten sie, nach neuen Möglichkeiten in unterentwickelten Märkten Ausschau zu halten, indem sie beispielsweise als Hausierer arbeiteten oder neue Produkte bzw. neue Formen der Vermarktung schufen.

Soziale Netzwerke spielten ebenfalls eine große Rolle.Juden waren über viele Länder verteilt, teilten jedoch bis zu einem gewissen Grade eine gemeinsame Sprache und das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals.Daher waren ihnen Chancen in der Ferne bewusster, sie hatten mehr internationale Kontakte und waren im internationalen Handel im Verhältnis aktiver.

Außerdem hatten Juden eine religiöse Kultur, die eine allgemeine Alphabetisierung der Erwachsenen förderte – zumindest der Männer – und eine Kultur, die das Lernen aus Büchern achtete.Diese Ansichten und Einstellungen wurden von religiösen Texten auf säkulare Bildungsformen übertragen.Infolgedessen waren Juden äußerst bildungsorientiert und bereit, aktuelle Wünsche und Einkommen aufzuschieben, um sich mehr zu bilden.

Solche Faktoren lassen erahnen, warum es uns hilft, unsere Aufmerksamkeit auf die Geschichte der Juden im Kapitalismus zu lenken, um den Kapitalismus im Allgemeinen zu verstehen.Sie erinnern uns daran, dass ein Großteil des Erfolges in einer kapitalistischen Gesellschaft auf kulturellen und historischen Faktoren beruht, die verschiedene Eigenschaften fördern, z. B. Innovationsgeist, Risikobereitschaft und den Aufschub von Belohnung durch Sparen und Bildung.

Diese kulturellen Züge sind schwierig in Zahlen zu fassen, daher fühlen sich Wirtschaftswissenschaftler unwohl, wenn sie sich mit ihnen beschäftigen.Sie werden oft innerhalb der Familien weitergegeben, sodass sie sich häufig sozialpolitischen Maßnahmen entziehen, die auf der Vorstellung beruhen, Chancengleichheit könnte durch staatliches Eingreifen hergestellt werden.

Wenn wir die Wirtschaftsgeschichte der Juden erforschen, werden wir auch daran erinnert, dass Gruppen, die überproportional erfolgreich sind, auf verschiedene politische Reaktionen treffen.Gesellschaften, die sich seit Langem an wirtschaftlicher Dynamik ausrichten, neigen dazu, wirtschaftlich erfolgreiche Menschen willkommen zu heißen, da sie sie als Quelle gegenseitiger Gewinne erachten.

Kulturen, die wirtschaftlich erfolgreichen Menschen eher ablehnend gegenüberstehen – entweder weil sie sie als Affronts gegen die Gleichheit ansehen, oder aufgrund der impliziten Annahme, dass die wirtschaftlichen Gewinne der einen, die Verluste der anderen sind –, neigen dagegen dazu, Juden gegenüber feindseliger zu sein und Verschwörungstheorien heranzuziehen, um deren wirtschaftlichen Erfolg zu erklären.Die meisten Gesellschaften liegen irgendwo im Spektrum zwischen diesen beiden Polen.

Einige Sozialwissenschaftler lenken nur ungern die Aufmerksamkeit auf den überproportionalen wirtschaftlichen Erfolg der Juden, aus Angst Antisemitismus hervorzurufen oder zu Verschwörungstheorien über die jüdische Vorherrschaft in der Wirtschaftswelt beizutragen.Zweifellos werden Verschwörungstheoretiker immer Futter für ihre Obsessionen finden.Doch die Tatsache, dass die Geschichte der Juden und des Kapitalismus das aktuelle Wissen und die Methode der Sozialwissenschaften in Frage stellt, ist ein weiterer Grund, dieses Thema zu erforschen.

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