Der neue Nahe Osten und seine Folgen für die internationale Politik

BERLIN – Seitdem Francis Fukuyama mit dem Ende des Kalten Krieges die gleichermaßen steile, wie öffentlich erfolgreiche These vom Ende der Geschichte aufgestellt hatte, hält eben diese Geschichte die Welt mit einem Stakkato von Ereignissen in Atem: die Zeitenwende 1989, der Aufstieg Chinas zur Weltmacht und die forcierte Globalisierung, die Balkankriege, der 11. September 2001, die Kriege in Afghanistan und im Irak, der zweite Libanon-Krieg 2006 mit Israel, der Krieg in Gaza zwischen Israel und der Hamas 2008, die globale Finanzkrise 2008, der Beginn des „arabischen Frühlings“ Ende 2010, der den Sturz einer ganzen Reihe von Diktatoren in der arabischen Welt mit sich brachte, vorneweg der Ägypter Husni Mubarak. 2011 der Beginn der syrischen Proteste gegen den Diktator Assad im Rahmen des „arabischen Frühlings,“ die mittlerweile zu einem anhaltenden blutigen Bürgerkrieg eskaliert sind. Ende 2011 der Abzug des US-Militärs aus dem Irak. 2013/14 Ausbruch der Krise um die Ukraine, die 2014 zur bewaffneten Annexion der Krim durch Russland führte und schließlich zu einem anhaltenden bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und Russland um die Ostukraine, einschließlich der damit einhergehenden erneuerten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen.

In der Ukraine und im Nahen Osten kann man ganz aktuell und gewissermaßen tagtäglich die Geschichte an der Arbeit sehen mit dramatischen Folgen. Der alte Nahe Osten, wie ihn die beiden europäischen Kolonialmächte, Großbritannien und Frankreich, während und nach dem 1. Weltkrieg aus der Erbmasse des osmanischen Imperiums geformt hatten und wie er bis in die Gegenwart hinein fortexistierte, versinkt definitiv dieser Tage, und eine neuer Naher Osten entsteht aus einem immer größer werdenden Chaos in dieser konfliktreichen Region. Zu dieser Entwicklung haben die USA ganz entscheidend beigetragen.

Deren ursprüngliche Sünde war deren militärische Invasion im Irak im Jahre 2003 unter Präsident George W. Bush. Die damals in Washington regierenden Neocons hatten zwar den Kopf voller Ideologie und Wunschdenken, vergaßen darüber aber die Realität, nämlich wie sie das durch den Sturz Saddam Husseins entstandene Machtvakuum im Land und in der Region aufzufüllen gedachten. Wenn sich dieselben irrenden Gestalten nunmehr erneut aus ihren historischen Grüften erheben, angeführt von Tony Blair und Dick Cheney, um Obama zu kritisieren, dann ist das nur noch lachhaft, denn diese Figuren haben das heutige Desaster entscheidend zu verantworten, weil sie es entscheidend verursacht haben. Mit ihrer erfolgreichen Destabilisierung des Irak schufen sie ein Machtvakuum in der gesamten Region, das nach der zweiten Sünde der USA Im Irak unter Präsident Obama, nämlich dem zu schnellen und verfrühten militärischen Rückzug, und in Verbindung mit dem „arabischen Frühling und dem damit einhergehenden Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs und der anhaltenden Passivität der „regionalen Ordnungsmacht“ USA in diesem Konflikt, droht mit dem schnellen militärischen Vormarsch der ISIS Terroristen und der Einnahme der zweitgrößten irakischen Stadt Mossul nunmehr der Zerfall des Irak. Die Grenze zwischen dem Irak und Syrien existiert faktisch nicht mehr. Damit würden die Grenzen nicht nur des Irak sondern vieler seiner Nachbarstaaten in Frage gestellt und vermutlich mit Gewalt neu gezogen werden. Auch die schon heute gewaltige humanitäre Katastrophe würde damit noch größere Dimensionen annehmen.

Gelänge es der Terrorgruppe ISIS dauerhaft ein staatsähnliches Gebilde in Teilen des Irak und Syriens zu etablieren, so würde das nicht nur die Desintegration der Region gewaltig beschleunigen, sondern die USA hätten dann auch ihren „Krieg gegen den Terror“ verloren und der Weltfrieden wäre ernsthaft gefährdet. Aber auch ohne einen Terrorstaat der ISIS bleibt die Lage extrem instabil, denn der syrische Bürgerkrieg erweist sich als ein hochgefährlicher Infektionsherd. In Syrien geht es schon seit langem nicht mehr um einen Bürgerkrieg allein, sondern um einen Kampf um die regionale Vorherrschaft zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, aufgeladen mit dem sehr alten innerislamischen Konflikt zwischen der Glaubensrichtung der Sunnis (Mehrheit) und der Minderheit der Schiiten.

Teil der Erbmasse des zerfallenden osmanischen Reiches waren auch die Kurden, denen allerdings ein eigener Staat bisher vorenthalten wurde und die sich auf mehrere nahöstliche Staaten verteilen: Irak, Iran, Türkei, Syrien. Seit Jahrzehnten kämpfen die Kurden um einen eigenen Staat, haben sich auf Grund schlimmer Erfahrungen allerdings seit dem Sturz Saddam Husseins im Nordirak sehr klug zurückgehalten, sich mit dem Status von Autonomie begnügt, ihre Autonome Provinz Nordirak allerdings bis an die Grenze der Unabhängigkeit wirtschaftlich und politisch erfolgreich aufgebaut und verfügen mit ihrer Pesh Merga, die aus dem kurdischen Widerstand im Irak hervorgegangen ist, über eine militärisch erfahrene und starke Armee. Der Vormarsch von ISIS und die Einnahme von Mossul haben jetzt auf einen Streich alle strittigen und explosiven Territorialfragen zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung zu deren Gunsten gelöst, vor allem der Konflikt um Kirkuk, denn die Irakische Armee räumte fluchtartig alle ihre Stellungen, die dann von der Pesh Merga übernommen wurden. Und so fiel Kirkuk wieder an die Kurden. Mit Kirkuk aber verfügt der Kurdische Norden jetzt aber über genügend ÖL und Gas für die volle Unabhängigkeit, und auch die Nachbarn Iran und Türkei und die USA werden die Kämpfer der Pesh Merga gegen ISIS dringend brauchen, so dass sich für die Kurden ein unverhofftes Fenster zur vollen Unabhängigkeit aufgetan hat. Es zeichnet sich ab, dass die Kurden ein dringend benötigter Stabilitätsfaktor in einem neuen Nahen Osten sein werden, was ihren nationalen Ambitionen sehr entgegenkommen dürfte. Andererseits brauchen die Kurden gute Beziehungen zur Türkei und dem Iran, da sie nur mittels dieser Länder Zugang zum Weltmarkt haben.

Zudem werden durch das von ihnen geschaffene Vakuum die USA immer mehr mit dem Iran zusammengezwungen, auch wenn sich Washington und Teheran noch heftig gegen diese objektive Entwicklung wehren. Aber der Zug rollt bereits. Schon heute sind direkte Gespräche zwischen beiden Seiten keine echte Nachricht mehr, sondern werden mehr und mehr zur neuen Normalität. Objektiv kämpfen beide Seiten gegen dieselben Dschihadisten, die von der sunnitischen Seite in der Golfregion unterstützt werden, den bisherigen Verbündeten der USA. Mit seinem Einmarsch in den Irak haben die USA Teheran nicht nur die Tür zur regionalen Hegemonie geöffnet, sondern zugleich auch objektiv einen Allianzenwechsel zugunsten der Schiiten und des Irans eingeleitet, dessen langfristige Auswirkungen jetzt inklusive der Nuklearverhandlungen mit dem Iran sichtbar werden. Eine der zentralen Fragen der Zukunft ist, ob Jordanien, dem für die Statik der Region eine Schlüsselrolle zukommt, diese geopolitischen Veränderungen unbeschadet überstehen wird, denn ansonsten drohte die gesamte Machtbalance im klassischen Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu kollabieren mit schwer absehbaren Folgen.

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Der neue Nahe Osten wird also keineswegs friedlicher und risikoärmer werden für die Internationale Politik und gewiss nicht für den direkten geopolitischen Nachbarn Europa. Und die Kurden und der Iran werden darin eine wichtige Rolle spielen.

Für Europa ergeben sich aus dieser Entwicklung zwei unmittelbare große Risiken: Erstens die zurückkehrenden Dschihadkämpfer, die den Terror mitzubringen drohen, und zweitens ein Überspringen dieser Ideen auf Teile des Balkans. Dieser südosteuropäischen Region werden Brüssel und die nationalen Hauptstädte der EU in Zukunft und im Interesse ihrer eigenen Sicherheit eine sehr viel größere Aufmerksamkeit schenken müssen als bisher.

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