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Auf in die nächste Krise

WASHINGTON, D. C. – Die Meinungen der Fachwelt darüber, wie sich die nächsten 12 Monate für die Weltwirtschaft entwickeln werden, gehen weit auseinander. Diejenigen, die sich auf die aufstrebenden Märkte konzentrieren, betonen das an Fahrt gewinnende Wachstum, wobei einige Prognosen von einer Steigerung der weltweiten Produktion um 5 % ausgehen. Andere, die sich mit den Problemen in Europa und den Vereinigten Staaten befassen, bleiben pessimistischer und prognostizieren eher ein Wachstum von etwa 4 % – und manche neigen sogar dazu, eine mögliche „W-förmige Rezession“ (double dip) mit einem zweiten Konjunkturrückgang vorherzusehen.

Es ist eine interessante Debatte, aber sie lässt den Blick fürs Ganze vermissen. Als Reaktion auf die Krise von 2007-2009 schnürten die Regierungen der meisten Industrieländer die zum Teil großzügigsten Rettungspakete, mit denen Finanzinstitute je ausgestattet wurden. Selbstverständlich ist es nicht politisch korrekt, von Rettungspaketen zu sprechen – die bevorzugte Wortwahl der politischen Entscheidungsträger lautet „Liquiditätshilfe“. Doch läuft dies im Grunde auf das Gleiche hinaus: Als es hart auf hart kam, beugten sich die mächtigsten Regierungen der Welt (zumindest auf dem Papier) immer wieder den Forderungen und Wünschen derer, die großen Banken Geld geliehen hatten.

In jedem Fall war die Logik unanfechtbar. Hätten zum Beispiel die USA der Citigroup 2008 (unter Präsident George W. Bush) und noch einmal 2009 (unter Präsident Barack Obama) keine im Grunde bedingungslose Unterstützung zugesagt, so hätte der daraus resultierende finanzielle Kollaps die globale Rezession vertieft und den Verlust von Arbeitsplätzen überall auf der Welt verschlimmert. Ebenso wären weitere finanzielle Schwierigkeiten in Europa und vielleicht auch anderswo auf uns zugekommen, wenn die Eurozone – mithilfe des Internationalen Währungsfonds – nicht eingeschritten wäre, um Griechenland und seine Gläubiger in den letzten Monaten zu schützen.

Im Grunde spielten die Regierungen und die großen Finanzinstitute in den USA und Westeuropa wiederholt das „Feiglingsspiel“. Die Regierungen sagten: „Keine Rettungspakete mehr.“ Die Banken sagten: „Wenn ihr uns nicht rettet, wird es höchstwahrscheinlich eine zweite Große Depression geben.“ Die Regierungen dachten kurz über diese Aussicht nach und gaben dann ausnahmslos nach.

Die Gläubiger wurden geschützt und die Verluste des Finanzsektors wurden auf die eigenen Regierungen abgewälzt (wie in Irland) oder auf die Europäische Zentralbank (wie bei Griechenland). Anderswo (den USA) wurden die Verluste mit großer „Nachsicht“ der Aufsichtsbehörden vertuscht (indem sie einwilligten, wegzusehen, während die Banken ihr Kapital durch den Handel mit Wertpapieren wieder aufstocken).

Und es hat funktioniert – zumindest erleben wir derzeit eine wirtschaftliche Erholung, auch wenn sich die Beschäftigungszahlen in den USA und einigen europäischen Ländern nur enttäuschend langsam verbessern. Was ist also das Problem mit den Maßnahmen von 2007-2009, und warum können wir nicht einfach planen, in Zukunft etwas Ähnliches zu unternehmen, falls wir jemals wieder in eine solche Krise geraten?

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Das Problem sind die Anreize – wie sich die Rettungsaktionen auf die Einstellung und das Verhalten im Finanzsektor auswirken. Der Schutz, der Banken und anderen Finanzinstituten seit dem Sommer 2007 zuteil wird, und in noch größerem Umfang seit dem Konkurs von Lehman Brothers und AIG im September 2008, sendet ein einfaches Signal aus. Wer im Verhältnis zum System „groß“ ist, erhält mit höherer Wahrscheinlichkeit großzügige staatliche Hilfen, wenn das System allgemein gefährdet ist.

Wie groß „groß genug“ ist, bleibt eine offene und interessante Frage. Große Hedgefonds sehen sich vermutlich nach Möglichkeiten um, größer und damit „systemwichtig“ zu werden. Idealerweise – von ihrem Standpunkt aus – wachsen sie, ohne die Aufmerksamkeit der Aufsichtsbehörden auf sich zu ziehen, sodass nicht schon im Vorfeld Begrenzungen für ihre risikoreichen Aktivitäten festgelegt werden. Wenn alles gut geht, ziehen diese Hedgefonds einen enormen Vorteil daraus – ebenso natürlich die Banken, die zweifellos bereits zu groß sind, um zu scheitern („Too Big to Fail“ = TBTF).

Wenn etwas schiefläuft, erwarten selbstverständlich alle, die Too Big to Fail sind oder Kredite an TBTF-Firmen vergeben haben, von der Regierung geschützt zu werden. Diese Erwartung senkt die aktuellen Kreditkosten für Megabanken (im Vergleich zu ihren Konkurrenten, die klein genug sind, um aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor einem Konkurs gerettet zu werden). Infolgedessen ergibt sich für alle Finanzinstitute ein großer Anreiz zu wachsen (und sich mehr Geld zu leihen), in der Hoffnung, ebenfalls größer und damit „sicherer“ zu werden (aus Sicht der Gläubiger, nicht der Gesellschaft).

Die politischen Entscheidungsträger in den USA räumen ein, dass diese Anreizstruktur ein Problem darstellt – interessanterweise sind viele ihrer europäischen Kollegen noch nicht einmal dazu bereit, diese Punkte offen zu besprechen. Doch die offizielle Version aus dem Weißen Haus und dem Finanzministerium lautet: „Wir haben TBTF abgeschafft.“ Das Gesetz zur Finanzreform liegt derzeit dem Kongress vor und wird wahrscheinlich innerhalb eines Monats von Obama unterschrieben.

Leider ist dies schlicht nicht der Fall. In Bezug auf den kritischen Punkt der unverhältnismäßigen Bankengröße und was diese für das systemische Risiko bedeutet, gab es einen gemeinsamen Versuch der Senatoren Ted Kaufman und Sherrod Brown, eine Obergrenze für große Banken einzuführen – ganz im Sinne der ursprünglichen „Volcker Rule“, die im Januar 2010 von Obama selbst vorgeschlagen wurde.

In einer nahezu unglaublichen Kehrtwende hat die Regierung Obama, aus Gründen die eher im Dunkeln bleiben, diesen Ansatz selbst verworfen. „Hätten wir den Vorschlag von Brown-Kaufman umgesetzt, wären dadurch die sechs größten Banken Amerikas zerschlagen worden“, merkte ein hoher Regierungsbeamter an. „Wenn wir dafür gewesen wären, wäre das wahrscheinlich passiert. Aber wir waren dagegen, also kam es nicht dazu.“

Ob die Weltwirtschaft jetzt um 4 % oder 5 % wächst, ist zwar wichtig, beeinflusst jedoch unsere mittelfristigen Aussichten nicht in besonderem Maße. Der US-Finanzsektor ist bedingungslos gerettet worden – und derzeit nicht mit irgendeiner bedeutsamen Neuregulierung konfrontiert. Wir sorgen gerade zweifellos dafür, dass es zu einem weiteren Boom kommt, ausgelöst durch exzessive Risiken, die fahrlässig im Zentrum des weltweiten Finanzsystems eingegangen werden. Das kann nur auf eine Art enden: böse.

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