ffb32e0346f86f400c2fb102_pa3726c.jpg Paul Lachine

Deutschland kann sich (erneut) überzeugen lassen

GENF – Man könnte meinen, die in Zeitlupe ablaufende Staatsschuldenkrise in Europa sei einzigartig, aber dem ist nicht so. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat es in Europa den Wechselkursmechanismus (WKM) gegeben, der im Zuge einer Krise zusammengebrochen ist, die große Ähnlichkeiten zu der Krise aufweist, die Europa heute erschüttert. Wird das Ergebnis dieses Mal anders aussehen?

Der WKM war ein Abkommen, mit dem der maximale Schwankungsspielraum der Wechselkurse der meisten europäischen Währungen festgelegt wurde. Doch die Währungspolitik blieb weiter den einzelnen WKM-Mitgliedern überlassen, was, wie nicht anders zu erwarten, gelegentlich zu fiskalischen Ungleichgewichten führte. Wenn Kapitalmärkte ein Problem unter den WKM-Mitgliedern witterten, setzten sie unweigerlich die anfälligste Währung durch so genannte Leerverkäufe unter Druck und trieben die Währungsbehörden des jeweiligen Landes in die Abwertung. Die Behörden leisteten Widerstand, rügten die Spekulanten und gaben sich normalerweise nach einigen turbulenten Tagen geschlagen.

Auch die Entschlossenheit politischer Entscheidungsträger in ansonsten gesunden Ländern wurde durch die Märkte auf die Probe gestellt, wenn es zu großen Streiks oder wichtigen Wahlen kam. In solchen Fällen konnte sogar eine Regierung mit einwandfreien wirtschaftlichen Eckdaten und einer soliden Zentralbank in Schwierigkeiten geraten. Der Präsident der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet ist sich dessen sehr wohl bewusst: Anfang der 1990er-Jahre musste er einer solchen Krise als Gouverneur der Bank von Frankreich ins Auge sehen.

Einige zeitgenössische Beobachter des WKM dachten, es gäbe eine einfache Lösung für diese Probleme. Wenn die Zentralbank des Landes mit der „starken Währung“ (Deutschland) bereit gewesen wäre, einer „schwachen Währung“ unbegrenzte Unterstützung zu gewähren, hätten die Dinge in Ordnung gebracht werden können. Die Deutsche Bundesbank, so der Vorschlag, sollte bereitstehen Lire oder Francs in „unbegrenzter Höhe“ zu kaufen, damit niemand wagen würde, eine dieser Währungen zu „shorten“, also durch spekulative Geschäfte mit Leerverkäufen unter Druck zu setzen.

Der Begriff „in unbegrenzter Höhe“ spielte dabei eine wichtige Rolle: Spekulanten würden die Behörden zwingen, eine begrenzte Höhe auszuschöpfen und der Behörde, die die Käufe tätigt (die Bundesbank) würden letzten Endes Verluste entstehen. Ein Währungsbeistand würde zu fiskalischen Transfers führen und begrenzte Interventionen würden sich als Reinfall erweisen. Mit unbegrenzter Unterstützung hingegen ließe sich jeder einzelne Spekulant abschmettern, und es würde kein Verlust entstehen (da die Intervention zur Unterstützung einer schwachen Währung gelingen würde).

Das einzige Problem bestand darin, dass sich sowohl die Bundesbank als auch die Deutsche Bundesregierung stets grundsätzlich gegen eine solche Regelung wehrten, da diese zum Drucken unbegrenzter Mengen Deutsche Mark führen und somit die Inflation anheizen würde.

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Stattdessen hat Europa den Euro entwickelt und so das Problem spekulativer Angriffe und monetärer Glaubwürdigkeit gelöst, indem einzelne Währungen durch eine neue ersetzt wurden. Es war unmöglich gegen die Lira oder den Francs zu wetten, weil es keine Lira und keinen Francs mehr gab. Italien und Frankreich mussten allerdings eine Gegenleistung für diese Sicherheit erbringen: Die EZB wurde für unabhängig von allen Regierungen der Eurozone erklärt.

Doch die aktuelle Schuldenkrise hat das alte Problem wieder aufleben lassen, wobei Verschuldung die Rolle übernommen hat, die die Währungen beim Wechselkursmechanismus gespielt haben. Einige Länder der Eurozone haben sich exzessiv verschuldet und sind, vielleicht zu Recht, von den Märkten bestraft worden, während andere im daraus resultierenden Klima der Angst und Verunsicherung ins Visier von Spekulanten geraten sind. Am 21. Juli einigten sich die Regierungschefs der Eurozone auf eine „erweiterte“ Nutzung des neuen Euro-Rettungsschirms (European Financial Stability Facility, EFSF), indem beschlossen wurde, dass dieser Staatsanleihen überschuldeter Länder der Eurozone auf dem Sekundärmarkt aufkaufen kann.

Doch die „erweiterten Interventionen“ des EFSF erinnern an die Intervention in „unbegrenzter Höhe“ auf dem Devisenmarkt, die zur Rettung des WKM vorgeschlagen worden war. Wenn „erweitert“ zusammengestückelte, begrenzte Engagements bedeutet, die letztendlich erschöpft sein werden, läuft das Vorhaben Gefahr, Verluste zu verursachen (so wie die Bundesbank Verluste erlitten hätte, wenn sie sich in begrenztem Umfang am Schutz schwächerer Währungen unter dem WKM beteiligt hätte). Um das auszuschließen, wären „unbegrenzte Interventionen“ notwendig. Aber mit wessen Mitteln und unter wessen Hoheit?

Das erklärt, warum „Eurobonds“ zunehmend für Furore sorgen. Die Umwandlung aller nationalen Anleihen der Eurozone in Verbindlichkeiten, für die alle Regierungen der Eurozone gesamtschuldnerisch haften, ist eine Kopie der Lösung für den Zusammenbruch des Wechselkursmechanismus, die darin bestanden hatte, nationale Währungen zugunsten des Euro abzuschaffen. Für Deutschland würde es den Kontrollverlust über die Qualität seiner Kredite bedeuten, genau wie die Gründung der EZB als gemeinsame Währungsbehörde und Nachfolger der Bundesbank für Deutschland den Verlust über die Kontrolle der Qualität seiner Währung bedeutete (obwohl Deutschland eine große Rolle bei der Gestaltung der EZB zugebilligt wurde).

Den aktuellen Vorschlägen mangelt es an einem Äquivalent für die Unabhängigkeit der EZB, die für die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion gesorgt hat. Es ist kein Zufall, dass einer der führenden Gegner der Politik der „unbegrenzten Interventionen“ unter dem WKM – der erste Chefökonom der EZB, Otmar Issing, – vor kurzem sowohl dem „erweiterten Rettungsfonds EFSF“ als auch Eurobonds eine Absage erteilte. Die aktuellen Vorschläge, so Issing, seien „nicht demokratisch“.

Wahrscheinlich werden enorme Zugeständnisse nötig sein, um für eine Beteiligung Deutschlands zu sorgen. Da die Märkte in der Lage sind unsichere Schuldner zu überwachen, werden die Garantien institutionell, gesetzlich geregelt und politisch sein müssen – wahrscheinlich muss die formelle Kontrolle über die europäische Fiskalpolitik von einem Organ übernommen werden, das mindestens so glaubwürdig wie die EZB ist, was die  nationalen Parlamente in ihrer Macht drastisch einschränken würde.

Derart radikale Veränderungen würden die Zustimmung aller Länder der Eurozone voraussetzen. Und der Bundestag (nicht Standard and Poor’s) müsste zufrieden sein. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt.

https://prosyn.org/YHCSNVAde