7f33230446f86f380e992724_pa3695c.jpg Paul Lachine

Sehenden Auges ins Desaster

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Seit dem Beginn der griechischen Schuldenkrise im Spätwinter 2010 mussten und müssen die wichtigsten europäischen Akteure eigentlich um die Risiken und Konsequenzen wissen, die sich für die EU daraus ergeben. Sie hinterlassen beim Publikum aber nicht diesen Eindruck.

Es geht seit damals nicht nur um Griechenland, sondern um sehr viel mehr: Es droht ein von der ungeordneten Insolvenz Griechenlands ausgehender Schneeballeffekt, der weitere Länder der südlichen Peripherie der EU, darunter auch sehr große, und damit systemrelevante europäische Banken und Versicherungen mit in den Abgrund reißen wird; es droht in der Folge davon eine erneute Krise des Weltfinanzsystems mit einem erneuten weltwirtschaftlichen Schock wie im Herbst 2008; und es droht ein Scheitern der Eurozone, das den gemeinsamen Markt nicht unbeschädigt lassen wird, und deshalb auch zum ersten Mal in seiner Geschichte ein Scheitern des europäischen Projektes als solches. Im Klartext: Es geht um fast alles!

Warum, muss man sich dann allerdings fragen, regiert seitdem statt energischem Krisenmanagement und einer visionären Neuausrichtung der EU als Antwort auf deren existenzbedrohende Krise fast ausschließlich das Prinzip des „Zuwenig und zu spät“? Mangelnde Entschlossenheit, Zögerlichkeit, nationale Egoismen und ein dramatisches Führungsdefizit bestimmen das Verhalten der EU und ihrer wichtigsten Mitgliedstaaten in dieser Krise.

Auch Staaten können Pleite gehen, aber anders als Unternehmen verschwinden sie danach nicht. Sie bleiben. Und man sollte deshalb Staaten weder bestrafen noch ihre fortgeltenden Interessen unterschätzen. Statt Bestrafung empfiehlt es sich, zahlungsunfähigen Staaten Hilfe zur Neustrukturierung zu gewähren, und zwar nicht nur im finanziellen Sektor, sondern weit darüber hinaus, damit sie sich aus ihrer Krise herausarbeiten können.

Dieses Faktum gilt heute ganz besonders für Griechenland, dessen Strukturprobleme noch weitaus umfassender sind als seine Zahlungsschwierigkeiten. Warum die EU bisher darauf verzichtet hat, diese umfassenden Strukturprobleme gemeinsam mit der griechischen Regierung anzupacken, eine entsprechende Wiederaufbaustrategie für die Realwirtschaft und die staatlichen Strukturen und deren Finanzierung zu entwickeln und so der griechischen Bevölkerung ein Licht am Ende des Tunnels zu zeigen, ist ebenfalls schwer erklärlich. 

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Jeder weiß, dass Griechenland sich ohne eine massive Entschuldung nicht aus seiner Krise wird herausarbeiten können. Die Frage ist nur noch, ob dies geordnet und kontrolliert geschieht oder ungeordnet und mit chaotischen Konsequenzen weit über Griechenland hinaus.

Die Debatte in Deutschland, ob man die griechischen Schulden bezahlen müsse, ist angesichts der Faktenlage schlicht lachhaft, denn entweder kommt es zu einem geordneten Zahlungsausfall oder zu einem ungeordneten. Im ersten Fall wird Deutschland, gemeinsam mit anderen, bezahlen müssen. Im zweiten Fall gilt dies aber erst recht, weil dann sofort offensichtlich würde, dass es weniger um Griechenland als vielmehr um die Zahlungsunfähigkeit europäischer Banken und Versicherungen ginge, deren Pleite ein systemisches Risiko nach sich zöge.

Worauf warten die Regierungschefs der Eurozone eigentlich? Will man den Bevölkerungen keinen reinen Wein einschenken, weil man um die eigene Mehrheitsfähigkeit und somit die Wiederwahl fürchtet?

Die europäische Finanzkrise ist eigentlich eine politische Krise, weil die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht in der Lage sind, sich für die notwendigen Maßnahmen zu entscheiden. Stattdessen verliert man Zeit mit Nebensächlichkeiten, die vor allem innenpolitische Gründe haben.

So richtig es grundsätzlich ist, eine Beteiligung der Banken an der Finanzierung der Krise zu fordern, so wenig Sinn macht es darauf zu bestehen, solange eine solche Beteiligung getreu der Devise „too big to fail“ zu einer erneuten Krise des Finanzsystems führen kann. Zu Beginn des Jahres 2009 hätte dazu durch eine Neuaufstellung des gesamten Systems eine große Chance bestanden, aber diese ließ man kaum genutzt verstreichen.

Ohne dass diese existenzbedrohende politische Krise der EU beantwortet wird, wird die europäische Finanzkrise sich weiter voran fressen und die EU destabilisieren. Im Zentrum der politischen Krise steht die Gewissheit, dass der Euro und damit die EU als Ganzes ohne politische Union nicht überleben werden.

Entweder will man den Euro erhalten und muss sich dann schleunigst auf den Weg in die politische Union machen, oder man wird den Euro und die europäische Integration nolens volens rückabwickeln. Europa würde dann nahezu alles verlieren, was es an Integrationsfortschritten über ein halbes Jahrhundert hinweg erreicht hat, und sich in ein Europa der Renationalisierung zurückentwickeln. Dies wäre angesichts der entstehenden neuen Weltordnung schlicht eine Tragödie für uns Europäer.

Der scheidende Präsident der EZB, Jean-Claude Trichet, hat eine Antwort auf diese Existenzkrise der EU und des Euro versucht, indem er die Schaffung eines europäischen Finanzministers vorgeschlagen hat. Die Reaktion der Staats- und Regierungschefs darauf war umwerfend deprimierend und zeigte, dass im Europäischen Rat offensichtlich kaum jemand bereit ist, sich der Tiefe der Krise der EU wirklich zu stellen.

Wir werden mehr und nicht weniger Europa brauchen, mehr und nicht weniger Integration, Stabilitäts- und Transferunion müssen zusammengehören und, ja, die reichen Volkswirtschaften – vorneweg Deutschland – werden den Weg aus der Krise bezahlen müssen.

Deutschland und Frankreich, die beiden entscheidenden Akteure in dieser Krise, müssen zu einer gemeinsamen Strategie kommen, da nur sie gemeinsam diesen Schritt werden durchsetzen können. Allerdings gibt es dabei ein sehr großes Problem. Die weitergehende politische Integration ist mit dem Verfassungsreferendum an Frankreich gescheitert, die weitergehende wirtschaftliche Integration droht nunmehr an Deutschland zu scheitern.

Deswegen bedarf es jetzt eines offenen, ja freimütigen Dialogs zwischen den beiden Partnern über eine umfassende Neuaufstellung der Währungsunion. Vertragsänderungen sind nicht möglich, also wird man andere Wege beschreiten müssen. Umso wichtiger wird deshalb das deutsch-französische Paar.

Wir Europäer sollten trotz all der Krisen und Handlungsunfähigkeit aber nicht vergessen, wie wichtig der Bestand und die Zukunft der EU für uns alle ist und bleiben wird. Das europäische Wappentier ist der Stier und nicht ein kopfloses Huhn, wie es gegenwärtig den Anschein haben könnte. Vergessen wir das nicht!

https://prosyn.org/DP3Viw0de