Die Legitimitätskrise der Finanzwelt

WASHINGTON, DC – Dass Robert Diamond von Barclays kürzlich zurücktreten musste, stellt einen Wendepunkt dar. Natürlich wurden bereits vorher Geschäftsführer großer Banken entlassen. Chuck Prince hat seinen Job bei Citigroup verloren, weil er vor der Finanzkrise von 2008 zu hohe Risiken eingegangen war, und später wurde Oswald Grübel von der UBS herausgeworfen, weil er ungenehmigte Handelsaktivitäten in Höhe von 2,3 Milliarden USD nicht verhindert hat.

Aber Diamond war ein Banker, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu sein schien. Barclays, so wurde behauptet, hatte die Krise 2008-2009 überstanden, ohne staatliche Unterstützung anzunehmen. Und obwohl seine Bank kürzlich verschiedene Regeln verletzt hatte, beispielsweise beim Kundenverkauf und der Berichterstattung über Zinssätze, konnte Diamond sich von dem entstandenen Schaden distanzieren.

Presseberichten zufolge waren Regulierer bereit, Diamond einen Freibrief auszustellen – bis zu dem Moment, als ernsthafte Angriffe aus der Politik kamen. Diamond wehrte sich und beschuldigte die Bank of England. Daraufhin musste er gehen.

Aus Diamonds Abgang bei Barclays können wir drei Lektionen lernen:

Zunächst einmal kam der politische Angriff nicht von Hinterbänklern oder uninformierten Zuschauern abseits des Mainstreams. Die Kritik an den Handlungen von Barclays stammte von hohen Politikern aller britischer Parteien und richtete sich insbesondere gegen die systematische Schummelei der Bank bei der Berichterstattung über Zinssätze, die im Libor-Skandal ans Licht kamen. (Die London Interbank Offered Rate ist ein Basiswert zur weltweiten Kreditaufnahme und -vergabe sowie zur Preisgestaltung von Derivaten).

Tatsächlich ging Finanzminister George Osborne so weit zu sagen: “In der sonstigen Geschäftswelt ist Betrug ein Verbrechen, warum sollte es im Bankwesen anders sein?” Damit impliziert er eindeutig, dass bei Barclays Betrug im Spiel war – eine ernste Anschuldigung des britischen Finanzministers.

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Nach fünf Jahren weltweiter und großflächiger Skandale im Finanzsektor nimmt die Geduld ab. Wie es Eduardo Porter von der New York Times ausdrückt:

“Größere Märkte ermöglichen größere Betrügereien. In größeren Unternehmen mit komplizierteren Bilanzen können sie leichter verschleiert werden. Und in Banken, die groß genug sind, um von den Regierungen nicht fallen gelassen zu werden, ist die Versuchung am größten.”

Zweitens dachte Diamond offensichtlich, er könnte sich mit dem britischen Establishment anlegen. Seine Mitarbeiter brachten den Inhalt eines angeblichen Gesprächs zwischen ihm und Paul Tucker, einem hohen Mitarbeiter der Bank of England, ans Licht. Demzufolge hat die Bank of England Barclays aufgefordert, falsche Zinssätze zu melden.

Diamond vergaß offensichtlich, dass die Existenz jeder Bank, deren Bilanz im Vergleich zur Volkswirtschaft ihres Landes groß genug ist, völlig von guten Beziehungen zu Regulierern abhängt – und der Fähigkeit, den Aktionären Gewinne zu verschaffen. Barclays hat Aktiva in Höhe von etwa 2,5 Billionen USD – was etwa der Höhe des jährlichen BIPs Großbritanniens entspricht – und ist je nach Meßmethode die fünft- oder achtgrößte Bank der Welt. Banken dieser Größenordnung profitieren von riesigen impliziten Garantien der Regierung, was bedeutet, dass sie “zu groß sind, um zu scheitern”.

Diamond hat offensichtlich an seine eigene Rhetorik geglaubt – dass er und seine Bank für den wirtschaftlichen Wohlstand Großbritanniens unverzichtbar seien. Die Regulierer fielen auf seinen Bluff nicht herein und zwangen ihn zum Rücktritt. Der Börsenkurs von Barclays zog nach der Nachricht leicht an.

Die letzte Lektion besteht darin, dass uns die großen Auseinandersetzungen zwischen der Demokratie und hohen Bankern noch bevorstehen – in den Vereinigten Staaten ebenso wie auf dem europäischen Festland. An der Oberfläche bleiben die Banken mächtig, aber ihre Legitimität wird immer schwächer.

Jamie Dimon, der Vorstandsvorsitzende von JP Morgan Chase, war dieses Jahr für das exzessive Eingehen von Risiken in Höhe von fast 6 Milliarden USD verantwortlich (was wir einen “dreifachen Grübel” nennen könnten), aber sein Posten scheint weiterhin sicher zu sein. Dimon bleibt sogar im Aufsichtsrat der Notenbank von New York, obwohl diese nicht nur die Handelsverluste bei JP Morgan Chase intensiv untersucht, sondern auch die mögliche Verwicklung der Bank in den immer größer werdenden Libor-Skandal.

Wie Dennis Kelleher, der Präsident der Interessengruppe Better Markets, in einer kürzlichen Kongressaussage dokumentiert, kämpft das Bankensystem der USA zwei Jahre nach der Verabschiedung des Dodd-Frank-Gesetzes weiterhin hart – and effektiv – dafür, wichtige Reformen zu unterminieren. (Kellehers Aussage ist extrem lesenswert, ebenso wie seine Eröffnungserklärung zur Anhörung).

Aber trotzdem werden Fortschritte gemacht. Dimon ist das öffentliche Gesicht des Widerstands der Megabanken gegen Reformen, und wiederholte und öffentliche Angriffe gegen dieses Gesicht stärken diejenigen, die der exzessiven und unverantwortlichen Risikobereitschaft dieser Banken Zügel anlegen wollen.

Unterdessen macht die Situation in Europa einen explosiven Eindruck. Die Vorgehensweise der Europäischen Union zur Bankenregulierung hat Finanzinstitutionen dazu verleitet, in erheblichem Maße öffentliche Anleihen zu kaufen – eine scheinbar “risikofreie” Anlage. Und jetzt drohen angesichts der tiefen Staatsschuldenkrise in der Peripherie der Eurozone Staatspleiten, die die großen Banken mit nach unten reißen. Die Europäische Zentralbank hat den Banken eine große Menge “Notliquidität” zur Verfügung gestellt, die diese dazu verwenden, noch mehr Staatsanleihen zu kaufen. Dies hält die Zinssätze kurzfristig unten, erhöht die Verluste bei einer möglichen Pleite aber noch.

In allen entwickelten Volkswirtschaften sind Banken und Politik tief miteinander verflochten. Diamond musste erfahren, dass letztlich die Politik am längeren Hebel sitzt – zumindest in Großbritannien.

Aber worauf es wirklich ankommt, ist Legitimität und Information der Öffentlichkeit. Glauben Sie wirklich an die immer zweifelhaftere Idee, dass Megabanken in ihrer jetzigen Form für den Rest des privaten Sektors und damit für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze hilfreich sind? Oder kommen Sie wie viele andere immer mehr zu der Überzeugung, dass globale Megabanken und ihre Chefs einfach zu mächtig und gefährlich geworden sind?

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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