mw519c.jpg Matt Wuerker

Obama – der Mann der Mitte

BERKELEY – Trotz der häufigen Aufschreie amerikanischer Republikaner, Barack Obama würde versuchen die Vereinigten Staaten mit Sozialismus im europäischen Stil zu überziehen, ist inzwischen sehr deutlich geworden, dass der US-Präsident einzig und allein von einem Ort aus zu regieren wünscht: der Mitte.

Im Kampf gegen die Rezession hat sich Obama schon früh entschieden, dass er ein Konjunkturpaket vorantreiben will, das etwa halb so groß ist wie es seine demokratischen Wirtschaftsberater empfohlen haben und beschloss dies als Gesamtsieg zu werten, anstatt aus einer halben Sache eine runde zu machen.

Obama ist dieser vorsichtigen Politik derart verpflichtet, dass er sogar jetzt, mit einer Arbeitslosenquote, die an der 10-Prozent-Marke kratzt, nicht nach den tief hängenden Früchten greift und zusätzlich 200 Milliarden Dollar Bundeshilfe zur Unterstützung der US-Bundesstaaten einfordert, die weitere Entlassungen von Lehrern in den kommenden drei Jahren verhindern sollen. Anstatt der weiteren Aushöhlung der nationalen Verpflichtung zur Bildung der nächsten Generation Einhalt zu gebieten, hat Obama seinen Schwerpunkt auf das langfristige Ziel einer Sanierung des Haushalts verlagert – obwohl das makroökonomische Unwetter weiterhin tobt.

Und um mit der langfristigen Haushaltssanierung voranzukommen, hat Obama einen finanzpolitischen Brandstifter, den republikanischen Ex-Senator Alan Simpson, zu einem seiner Feuerwehrchefs ernannt – als einen von zwei Vorsitzenden der Defizit-Kommission. Simpson ist noch nie eine von einem republikanischen Präsidenten vorgeschlagene ungedeckte Steuersenkung untergekommen, gegen die er gestimmt hätte, und ihm ist noch nie ein von einem demokratischen Präsidenten vorgeschlagenes ausgewogenes Programm zur Verringerung des Defizits untergekommen, das er unterstützen würde. Parteianhänger, deren Engagement für eine Verringerung des Defizits schwindet, sobald es die politische Zweckdienlichkeit gebietet, gehören einfach nicht in den Vorsitz einer Kommission zur Verringerung des Defizits, die von zwei Parteien getragen wird.  

Ebenso duldet Obama im Umgang mit dem in Bedrängnis geratenen Finanzsektor eine Politik aus der Ära Bush, bei der Banken gerettet werden, ohne im Gegenzug etwas von ihnen zurückzufordern – keine Verstaatlichung und keine Beherzigung der zweiten Hälfte von Walter Bagehots Regel, dass Banken in Krisenzeiten nur unter der strengen Auflage geholfen wird, dass diese einen „Strafzins“ zahlen. Obama hat sich somit nicht nur rechts von Joseph Stiglitz, Simon Johnson und Paul Krugman positioniert, sondern auch rechts von seinen Beratern Paul Volcker und Larry Summers.

In der Umweltpolitik hat Obama nicht auf eine CO2-Steuer gedrängt, sondern auf ein Cap-and-Trade-System der Emissionsbegrenzung und des Handels mit Emissionsberechtigungen, das, in der ersten Generation, den Umweltverschmutzer bezahlt. Zählte man in der Vergangenheit zu den großen Emittenten, bekommt man für die nächste Generation das Eigentumsrecht für äußerst wertvolle Emissionsberechtigungen, deren Wert im Lauf der Zeit nur noch steigen wird.

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Bei den Bemühungen um Antidiskriminierung kommt die Aufhebung der Politik des „don’t ask, don't tell“ (zu Deutsch: Frage nicht, sage nichts) des US-Militärs gegenüber homosexuellen Soldaten nur sehr zögerlich voran – wenn es überhaupt eine treibende Kraft hinter den Bemühungen gibt.

Die Politik in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit kommt mit der Schließung von Guantánamo, das ein Fehler war, ebenfalls nur langsam voran. Außerdem beansprucht Obama Exekutivbefugnisse, die denen von König Karl II. im Großbritannien des siebzehnten Jahrhunderts Konkurrenz machen und stellt sich so in eine Reihe mit George W. Bush.  

In Bezug auf die Gesundheitsreform, Obamas stolzestem Moment, ist seine Leistung…Trommelwirbel…ein Modell, das beinahe exakt der Reform entspricht, die Mitt Romney, ein Republikaner, der 2008 für das Präsidentenamt kandidierte, im Bundesstaat Massachusetts eingeführt hat. Kernstück der Reform ist eine Auflage der Regierung, die Bürger zum Abschluss einer Krankenversicherung verpflichtet und auf ihr verantwortungsvolles Handeln setzt – obschon die Regierung bereit ist, Arme finanziell zu unterstützen und die Verhandlungsmacht der Schwachen zu stärken.

In jedem dieser Fälle regiert Obama, oder versucht zu regieren, indem er Positionen einnimmt, die im Zentrum einer technokratischen guten Regierungsführung stehen – und opfert dabei einige wichtige politische Ziele – in der Hoffnung republikanische Stimmen zu gewinnen und somit sein Engagement für parteiübergreifende Zusammenarbeit unter Beweis zu stellen. Egal, um welche dieser politischen Richtlinien es sich handelt – Rezessionsbekämpfung, Bankwesen, Finanzen, Umwelt, Antidiskriminierung, Rechtsstaatlichkeit, Gesundheit – man könnte seine Augen schließen und zu der Überzeugung gelangen, zumindest soweit es die Substanz betrifft, dass Obama in Wirklichkeit ein moderater Republikaner mit dem Namen George H.W. Bush, Mitt Romney, John McCain oder Colin Powell ist.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Mein Vorwurf an Obama ist nicht, dass er zu parteiübergreifend ist oder zu sehr die politische Mitte vertritt. Im Grunde bin ich selbst ein verwässerter Sozialdemokrat der Sorte Dewey-Eisenhower-Rockefeller – freilich ohne einer sozialdemokratischen Partei anzugehören. Ich beklage mich darüber, dass er nicht technokratisch genug ist, dass er der Schimäre der „parteiübergreifenden Zusammenarbeit“ zu sehr nachjagt und dass weite Teile seiner Politik infolgedessen nicht gut funktionieren werden – wenn überhaupt.

Ich verstehe, dass Politik die Kunst des Möglichen ist und dass die Technokratie guter Regierungsführung auf das Erreichbare beschränkt ist. Es wäre trotzdem gut, wenn sich Obama erinnern würde, dass wir nicht in Platons Idealstaat leben, sondern im römischen Morast eines Romulus.

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